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„Überholen ohne einzuholen“

Das einst von SED-Chef Ulbricht formulierte Ziel war für die Planwirtschaft unerreichbar.

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Von Joachim Ragnitz

Überholen ohne einzuholen“ – dieses von Walter Ulbricht schon im Jahr 1957 proklamierte Ziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR sollte die vermeintliche Überlegenheit des Sozialismus durch Erfolge auch auf wirtschaftlichem Gebiet deutlich machen. Tatsächlich hat es die DDR in ihrer Existenz aber weder geschafft, den Westen einzuholen noch ihn gar zu überholen. Der Grund hierfür liegt zum einen in der Unfähigkeit der Planwirtschaft, unter sich verändernden Rahmenbedingungen überhaupt ein hohes Wirtschaftswachstum zu erzielen, zum anderen aber auch darin, dass spätestens seit dem Jahr 1971 (Verkündigung des Prinzips der „Einheitlichkeit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ durch Erich Honecker) eine Reihe ganz gravierender Fehlentscheidungen getroffen wurden, die den Abstand zum Westen eher größer als kleiner haben werden lassen.

Der wahre Zustand der DDR-Wirtschaft war bis in den Herbst 1989 hinein ein gut gehütetes Geheimnis der engeren Führungszirkel von Staat und Partei, denn man wollte weder der eigenen Bevölkerung Zweifel an der Überlegenheit des Sozialismus erlauben, noch mochte man westlichen Regierungen, also „dem Klassenfeind“, allzu tiefen Einblick in die inneren Zustände von Wirtschaft und Gesellschaft geben. Zwar wusste die Staatliche Plankommission recht genau über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Bescheid; doch fanden ihre mahnenden Papiere bei den politisch Verantwortlichen des engeren Führungszirkels der Staats- und Parteiführung kein Gehör – wohl auch deswegen, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Doch auch wenn die Bevölkerung über die tatsächliche Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft nicht informiert war; die Folgen – Ressourcenverschleiß in der Produktion, allgegenwärtige Versorgungsmängel, die Verfehlung staatlicher Planvorgaben – waren zumindest im Kleinen doch wohl jedem bewusst.

Hinzu kam, dass angesichts der im alltäglichen Leben spürbaren Versorgungsdefizite die Parteipropaganda über die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems jedem als Hohn erscheinen musste. Dies galt umso mehr, als über das „Westfernsehen“, aber auch infolge der seit Mitte der 1980er Jahre gelockerten Reisefreiheit die markwirtschaftliche Alternative zunehmend in einem günstigeren Licht erschien.

Zwar wird die „friedliche Revolution“ des Jahres 1989 zumeist mit dem Freiheitsdrang der DDR-Bürger erklärt. Eine größere Reisefreiheit, die Möglichkeit, seine Meinung ohne Angst vor Repressalien frei zu äußern oder die stärkere Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen spielten für die Massenfluchtbewegung des Sommers 1989 und die Protestdemonstrationen in der DDR selbst in der Tat eine wichtige Rolle. Die „friedliche Revolution“ aber nur hierauf zurückführen zu wollen greift aber wohl zu kurz, denn zum einen war es nur eine eher kleine Gruppe von engagierten Bürgerrechtlern vor allem aus kirchlichen und umweltschutzorientierten Kreisen, denen es tatsächlich vor allem um mehr persönliche und politische Freiheit ging, und zum anderen wäre es der Partei- und Staatsführung ein Leichtes gewesen, diesen Widerstand gegen das bestehende System zu unterbinden, also gleichsam „die chinesische Lösung“ zu wählen. Dies verhinderte wohl allein, dass man sich angesichts der von der UdSSR ausgehenden Liberalisierungen in allen Staaten des Ostblocks hinsichtlich der Unterstützung der anderen sozialistischen Staaten nicht mehr sicher sein konnte. Der Wechsel in der Staats- und Parteiführung von Erich Honecker zu Egon Krenz im Oktober 1989 sowie die Öffnung der Grenzsperranlagen im November 1989 signalisierten der Bevölkerung lediglich die Ohnmacht der Staatsmacht und ermunterten sie zu weiteren Demonstrationen.

Die These, dass die DDR im Herbst 1989 ökonomisch am Ende war, ist nicht unbestritten geblieben. So wird behauptet, dass die Wirtschaftskraft der DDR zum Ende der achtziger Jahre durchaus vergleichbar gewesen sei mit jener anderer westlicher Staaten, dass die Einkommensverteilung gerechter gewesen sei als in der Bundesrepublik, und dass das verfassungsrechtlich verbriefte „Recht auf Arbeit“ eine Errungenschaft gewesen wäre, die die Überlegenheit des Sozialismus doch eindeutig beweise. Jedes einzelne dieser Argumente lässt sich widerlegen: Die Arbeitsproduktivität in der DDR wurde selbst von der Staatlichen Plankommission der DDR nur auf rund 60 Prozent des westdeutschen Niveaus veranschlagt (andere Schätzungen kommen nur auf 35 – 45 Prozent) , die Einkommensverteilung war zwar homogener, aber nicht gerechter, wenn man unter Gerechtigkeit die Äquivalenz von Lohn und Leistung versteht, und das in Artikel 24 der Verfassung garantierte „Recht auf Arbeit“ war eher als Arbeitsverpflichtung zu verstehen, denn sie schloss das Recht auf Nicht-Arbeit ebenso aus wie das Recht auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Und selbst wenn die DDR tatsächlich eine der zehn leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt gewesen wäre, wie es internationale Institutionen im Vertrauen auf die vielfach geschönten DDR-Statistiken glauben machen wollten, so wird diese Einschätzung schon allein durch die ökonomisch motivierten Massenproteste des Jahres 1989 Lügen gestraft..

Es ist sinnlos, durch Umrechnung der amtlichen DDR-Statistiken wenigstens nachträglich feststellen zu wollen, wie hoch die Leistungskraft der DDR-Wirtschaft im Vergleich zu den entwickelten Marktwirtschaften des Westens denn nun tatsächlich gewesen ist. Nicht nur, dass das System der statistischen Erfassung der gesamtwirtschaftlichen Leistung in der DDR ein anderes war als in Westdeutschland; viel wichtiger ist noch, dass das zur Bewertung von Produktionsmengen herangezogene Preisgefüge infolge der staatlichen Preisfestsetzung eben nicht ökonomischen Kriterien folgte, also nicht den tatsächlichen Wert der Waren anzeigte. Und schließlich gab es auch keinen realistischen Wechselkurs zwischen der Mark der DDR und westlichen Währungen, sodass auch von dieser Seite her eine Vergleichbarkeit von Pro-Kopf-Einkommensangaben in der DDR und in anderen Ländern nicht möglich ist.

Geheimpapier von 1989

Die wirtschaftliche Situation in der DDR am Ende der 1980er Jahre wird wohl am zutreffendsten in dem (damals geheimen) Arbeitspapier des ehemaligen Chefs der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, mit dem Titel „Analyse zur ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ vom 27.10.1989 beschrieben. Nach einer knappen Auflistung der wirtschaftlichen Erfolge der DDR wurden vor allem die bestehenden Probleme benannt:

– eine unzureichende Investitionstätigkeit im Zeitraum 1970 bis 1989, mit der Folge eines zunehmend Verschleißes des Kapitalstocks in der Produktion

–eine zunehmende Verlagerung der Investitionen von den exportorientierten Bereichen (Industrie) in konsumnahe Bereiche, insbesondere den Wohnungsbau

–eine unzureichende technologische Erneuerung der DDR-Wirtschaft

–ein ineffizienter Einsatz von Arbeitskräften, insbesondere in politisch motivierten und planerischen Tätigkeiten

–eine über den Produktionszuwachs hinausgehende Erhöhung der Einkommen der Bevölkerung, die zu stetig steigenden Kaufkraftüberhängen führten.

–ein Scheitern des Systems der zentralen Planung seit Beginn der 1980er Jahre

Diese Lageeinschätzung der Staatlichen Plankommission war nur für interne Zwecke bestimmt und wurde auch erst nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes öffentlich. Gleichwohl waren die Mängel der DDR-Wirtschaft – wenn auch nicht im Detail, so doch in ihren Auswirkungen – wohl allen in der DDR lebenden Menschen bekannt.

Die in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung bestehenden und teilweise sogar wieder zunehmenden Vorbehalte gegenüber dem marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen der Bundesrepublik sind wohl als eine Spätfolge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR anzusehen. Marktwirtschaft belohnt individuelles Geschick, bestraft aber auch Misserfolg; eine Soziale Marktwirtschaft verhindert darüber hinausgehend, dass individueller Misserfolg zu einer persönlichen Existenzbedrohung führt, lässt aber die Selbstverantwortung des Einzelnen ansonsten unangetastet. Vielen ehemaligen DDR-Bürgern ist der hieraus resultierende Vorrang individuellen Verhaltens vor staatlicher Intervention wie auch die daraus resultierende Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverhältnisse auch fast 20 Jahre nach der Vereinigung fremd geblieben. Hier hätte wohl zu Beginn der 1990er Jahre verstärkt Aufklärungsarbeit über das Wesen marktwirtschaftlicher Ordnungen geleistet werden müssen – was heute hingegen kaum noch möglich erscheint.

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrags im Rahmen der Ringvorlesung der Konrad-Adenauer-Stiftung „Wie schmeckte die DDR?“. Den nächsten Vortrag hält der Regisseur und Publizist Konrad Weiß am Dienstag, den 11. November 2008, 20.00 Uhr, im Stadtmuseum Dresden. Das Thema: „Jugendweihe – Reserveoffziersbereitschaft – Deutsch-Sowjetische Freundschaft“.