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Tiefensee’s Görlitzer Zeiten

Der ehemalige Oberbürgermeister von Leipzig hat in Görlitz studiert. Am Montag war er mal wieder zu Besuch.

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© Pawel Sosnowski/pawelsosnowski.c

Von Susanne Sodan

Görlitz. Von seiner Studentenwohnung aus hatte Wolfgang Tiefensee einen sehr guten Blick die Berliner Straße hinab. Er wohnte über dem heutigen Café Central. In Görlitz studierte er Industrielle Elektronik. Eigentlich durfte er gar nicht. Wolfgang Tiefensee kommt aus einem katholisch geprägten Elternhaus, wuchs in Gera und Leipzig auf. Anders als sein älterer Bruder konnte er zwar die EOS besuchen. Aber für ein Studium galt er schließlich als „nicht geeignet“, erzählte er gestern in Görlitz. Es klappte doch noch, drei Jahre studierte Tiefensee an der Ingenieurschule für Elektronik und Informationsverarbeitung. Am Montagvormittag war er zu Besuch in seiner alten Studienstadt, in der Vormittagsakademie, eine Vortragsreihe des Kirchenkreises Schlesische Oberlausitz. Organisator Erdmann Wittig, Pfarrer der Christusgemeinde Görlitz, hatte dafür in das Seniorenzentrum am Stadtpark eingeladen.

In Görlitz war Tiefensee nicht nur von 1976 bis 1979 Student, er engagierte sich auch in der katholischen Studentengemeinde. Später, im Herbst 1989 vertrat er die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ am Runden Tisch in Leipzig. In der Stadt wurde er kurz darauf Leiter des Schulverwaltungsamtes. 1995 trat er in die SPD ein, 1998 wurde er zum Oberbürgermeister von Leipzig gewählt. 2005 übernahm Tiefensee das Amt des Bundesverkehrsministers. Seit 2014 ist er Wirtschafts- und Wissenschaftsminister in Thüringen. In Görlitz sprach er nicht nur über seine Erinnerungen an die Stadt, sondern auch über seinen weiteren Lebensweg, über zerbrochene Biografien nach der politischen Wende und auch darüber, wie der Osten heute dasteht.

Prüfung beim späteren OB Karbaum

Sein erster Besuch in Görlitz seit der Studentenzeit war es für Tiefensee gestern nicht. 1998 zum Beispiel war er in Görlitz. In diesem Jahr wurde Rolf Karbaum zum Görlitzer Oberbürgermeister gewählt. Er war zuvor Professor an der Hochschule Zittau/Görlitz, davor wiederum lehrte er an der Ingenieurshochschule. „Herr Karbaum hatte mir damals die Prüfung in Digitaltechnik abgenommen“, erzählte Tiefensee. Er brachte noch einige andere Erinnerungen mit. Ganz am Anfang des Studiums habe er in einer „Studentenbude“ gewohnt, dann, frisch verheiratet, zog er auf die Berliner Straße. Der Görlitzer Bischof Rudolf Müller, damals noch Pfarrer, interessierte ihn für die katholische Studentengemeinde. Eine „wunderbare Zeit“, die ihn durchaus beeinflusst habe, erzählte Tiefensee. Regelmäßig standen Besuche in Polen auf dem Programm. Rudolf Müller selbst hatte immer viel mit polnischen Diözesen zusammengearbeitet, setzte sich auch für den ökumenischen Gedanken ein. Tiefensee nahm in dieser Zeit viel für den demokratischen Gedanken mit, erzählte er. Denn die innerkirchlichen Ämter seien damals in freier, geheimer Abstimmung gewählt worden, was im politischen Leben der DDR weniger der Fall gewesen sei.

Insgesamt habe er in der DDR ein „geglücktes Leben, aber im falschen System“ geführt, so Tiefensee. Einfach sei es für ihn und seine Geschwister, gerade als Schüler, nicht immer gewesen. Die Mutter stammte aus einem streng katholischen Haus in Schlesien. Der Vater kam aus einer ostpreußischen Familie, die nach dem Krieg aus der Kirche ausgetreten war. Einig aber waren sich die Eltern in dem Punkt: „Wahrscheinlich auch aus dem Kriegserlebnis heraus haben sie immer gesagt: Wir laufen keinem Regime hinterher“, erzählte Tiefensee, die vier Kinder sollten lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie sollten nicht zu den Pionieren oder der FDJ gehören, feierten keine Jugendweihe. Für Wolfgang Tiefensee bedeutete das aber auch, dass er nicht zum Studium zugelassen wurde. Er machte eine Ausbildung zum Fernmeldetechniker, ging dann zu den Bausoldaten. Ein Freund machte ihn aufmerksam darauf, dass die Klasse der Ingenieurhochschule Görlitz nicht voll sei. Über einen Umweg kam er doch noch zum Studium.

Ein geglücktes Leben, das habe nicht nur er, sondern viele in der DDR geführt. Man dürfe generell einen Staat oder ein Regime nicht gleichsetzen mit den Menschen, die darin leben. Nach der politischen Wende allerdings seien viele Biografien zerbrochen. Tiefensee selber sagt, er sei ein Gewinner des Herbstes 1989 gewesen. „Ich konnte danach gestalten.“ Viele andere dagegen haben ihre Arbeit verloren, „vorherige Biografien wurden plötzlich entwertet“. Für viele sei es darum gegangen, überhaupt eine Arbeit zu haben, oft bei einem niedrigen Lohn. Auch heutige Abstiegsängste sieht er zum Teil in dieser Phase begründet.

Nicht wegleugnen, was passiert

Ist der Aufbau Ost danach dennoch gelungen? „In weiten Teilen sage ich: Ja“, so Tiefensee. Lohnanstieg in den vergangenen Jahren, Zahl der Patentanmeldungen und Hochschulansiedlungen in Ostdeutschland sprechen beispielsweise dafür. Andererseits gebe es schwerwiegende soziale Unterschiede, sagte Tiefensee mit Blick auf Renten, Wegzug junger Menschen aus Ostdeutschland, „und die Löhne bleiben ein Problem“.

Wenn man schon einen hochrangigen Politiker zu Gast hat: Einige Zuhörer nutzten die Möglichkeit, aktuelle Probleme anzusprechen. Zum Beispiel das Bild von Sachsen in den Medien. Es könne nicht sein, wie Sachsen dargestellt werde, verzerrt bis hin zu falsch – oder gar gefälscht, findet eine ältere Zuhörerin. Sie ging dabei auf das Chemnitz-Video ein, um dessen Authentizität sich eine Debatte entsponnen hatte. Deutliche Worte fand hier Friedrich Albrecht, Rektor der Hochschule Zittau/Görlitz: Man dürfe nicht wegleugnen, was passiert, und verwies auf die Geschehnisse der vergangenen Jahre in Heidenau, Bautzen, „direkt in unserer Nähe“, und auch Chemnitz. Ihm machen diese Entwicklungen große Sorgen, sagte er. Jede Kritik reflexartig als ein auf Sachsen abgeladenes Vorurteil zu sehen – so einfach dürfe man es sich nicht machen. Ein anderer Gast ging auf Ostritz ein: Warum überhaupt Veranstaltungen wie das rechte „Schild und Schwert“-Festival in Ostritz stattfinden können, wenn die Mehrheit, wie der Mann sagte, sie nicht wollen. In Ostritz konkret war der Knackpunkt, dass die Veranstaltung auf einem Privatgelände angemeldet war. Generell erklärte Tiefensee, sei es im öffentlichen Raum sehr schwer für Kommunen, Veranstaltungen zu verhindern, die als politische Kundgebungen angemeldet sind, denn es gilt Meinungsfreiheit.