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Stolpen sehen und bleiben

Ob nun von hier, von der anderen Seite Deutschlands oder von der anderen Seite des Atlantiks: In Stolpen kann jeder Wurzeln schlagen.

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© Amac Garbe

Von Jörg Stock

Sie wollte eine Burg, und er fuhr los, übers Land, in einen Wald hinein. Und als er wieder rauskam, sah er Stolpen. „Ich dachte: Das isses!“, sagt Roman Lesch. Die Burg war weniger für Anja, seine Frau, gedacht, als für Philipp, seinen sechsjährigen Sohn. Der liebte Burgen, hatte alle Gemäuer der Schwäbischen Alb durchkämmt. So sollte auch die neue Heimat Wehrmauern und Türme haben. Philipp ist jetzt 30, lebt in Berlin. Julia, seine Schwester, damals ein halbes Jahr alt, studiert in Jena. Anja und Roman Lesch wohnen immer noch zu Füßen der Burg. Von ihrem Haus auf den Pfarrfeldern aus sieht man zwar allenfalls die Spitze des Siebenspitzenturms. Aber sie können ja hinspazieren. Das machen sie gern, sagt Anja. „Wir fühlen uns hier sehr wohl.“

Deutschlands Einheit einte auch sie: Heike und Ingo Gestring, hier mit den Kindern Nellie, Annie, Ben und Tim, vor ihrem sanierten Stolpener Bauernhof.
Deutschlands Einheit einte auch sie: Heike und Ingo Gestring, hier mit den Kindern Nellie, Annie, Ben und Tim, vor ihrem sanierten Stolpener Bauernhof. © Amac Garbe
Transatlantische Liebe: Wayne Brown heiratete Katrin in Texas. Mit Töchterchen Juliet wohnt die Familie nun in einem alten Bürgerhaus am Stolpener Markt.
Transatlantische Liebe: Wayne Brown heiratete Katrin in Texas. Mit Töchterchen Juliet wohnt die Familie nun in einem alten Bürgerhaus am Stolpener Markt. © Amac Garbe
Eine Stadt und ihre Menschen im Porträt: Das neue Stolpen-Magazin ist da!
Eine Stadt und ihre Menschen im Porträt: Das neue Stolpen-Magazin ist da!

Die Leschs sind verrückt nach Stolpen. Dabei lag anfangs nichts ferner. Die beiden wuchsen in der genau entgegengesetzten Ecke Deutschlands auf, im Saarland, an einem Höhenzug nordöstlich von Saarlouis. Das Leben ließ sich gut an, auch ohne Burg. Er studierte BWL, machte bei Siemens Karriere. Sie, mit französischer Oma, sprachbegeistert, wurde Fremdsprachensekretärin in einer Exportfirma. Das erste Kind kam. Alles schien geordnet.

Doch dann passierte es: Die Mauer fiel.

Sein erster Aufenthalt im Osten erschreckte Roman Lesch. Er war ausgerechnet im Chemiebezirk um Bitterfeld gelandet. Keine Luft zum Atmen, Verfall überall, auf der Hoteltoilette Zeitung statt Klopapier, Matratzen „von vor dem Dreißigjährigen Krieg“. Er wollte nie wieder einen Fuß in dieses Land setzen. Tat er dann aber doch. 1993 ging er für Siemens nach Leipzig, ein Jahr darauf nach Dresden. In Stolpen fand die Familienzusammenführung statt. Die Bedingung mit der Burg war schließlich erfüllt. Anja Lesch lacht. „Da konnte ich nichts mehr dagegen sagen.“

Bald ergaben sich Bekanntschaften, durch den Sport, die Kirche, den Kindergarten. Auch durch Nachbarschaftsfeste und Grillabende. Genau wie die Sachsen sind die Saarländer heiß aufs Grillen. Eine Grillparty heißt bei ihnen Schwenken, abgeleitet vom Grillrost, das an einem Dreibein über dem Feuer schaukelt. Und Saarländer sind Dialektsprecher. Sie reden elsässisch oder moselfränkisch oder, wie bei Leschs daheim, Piesbacher Platt. Der sächsische Singsang war ihnen gleich sympathisch.

Längst fühlen sich die Leschs in Stolpen voll integriert. Roman Lesch trainiert jetzt freiberuflich Manager und hält Vorlesungen an der Hochschule. Er sitzt im Stadtrat und vertritt den Bürgermeister. „Er macht sich um alles einen Kopp“, sagt seine Frau. „Wär’ schlimm, wenn nicht“, sagt er. Anja Lesch hat die Sprachschule „Happy Learning“ gegründet. Jede Woche übt sie mit über 300 Kindern in Kitas und Grundschulen Englisch. Rabe Bob, ihre Handpuppe, ist stets dabei und muss auch privat überallhin mit, bis rauf auf die Chinesische Mauer. Manchmal schreibt Anja Lesch der Queen. Neulich hat sie ihr vom Stolpener Burgjubiläum berichtet. Vielleicht kommt „Her Majesty“ ja mal vorbei? „Die Kinder würden ausflippen.“ Anjas Augen blitzen bei dem Gedanken. „Man soll niemals nie sagen.“

Manchmal stellt ein Besuch die Weichen für das ganze Leben. Oder für zwei. So war es bei Ingo und Heike Gestring. 1989, der Eisenvorhang hatte sich eben gehoben, besuchte der Posaunenchor von Dittersbach die Partnergemeinde Neukirchen bei Osnabrück. Dabei fiel der quirligen Sächsin Heike der stattliche Niedersachse Ingo ins Auge. Es war Liebe auf den ersten Blick. Im Sommer 1995, beim Kirchentag in Hamburg, funkte es dann richtig. Da wurde aus Ingo und Heike ein Paar. Sechs Wochen später ging Ingo zum Studium in die USA.

Heike Gestring, so sagen ihre Mitmenschen, ist jemand, der nicht so leicht aufgibt. Wenn sie etwas anpackt, muss es klappen. Ingo Gestring nennt seine Frau eine geborene Unternehmerin. Es ist nicht verkehrt, findet er, wenn ihre Impulsivität auf seine eher die Harmonie erstrebende Natur trifft. „Das ist eine gute Mischung.“ Heike wollte Ingo. So fuhr sie ihm hinterher, nach Amerika. „Weil er sich nicht mehr gemeldet hat“, sagt sie lachend. Auch als er in Hannover promovierte, im Fach Maschinenbau, war sie da. Vier Jahre lebten die beiden in Niedersachsen.

2002 wurde Ingo Gestring Produktionsleiter im gläsernen Volkswagenwerk von Dresden. In der Elbestadt wollte man heimisch werden. Doch das Jahrhunderthochwasser war eher da und flutete die Wohnung. Sie wichen nach Stolpen aus, vorübergehend, wie sie meinten. Doch ihre Wurzeln wuchsen schneller als gedacht. Heute wollen die beiden nicht mehr weg.

Heike Gestring, aus Wilschdorf stammend, mochte Stolpen schon als Kind, vor allem die Burg und dort besonders die Küche der Gräfin Cosel. Ingo Gestring liebt Stolpens kompakten Kern, der den Ort heraushebt aus dem Einerlei der Straßendörfer. Ingo Gestring, inzwischen Hochschulprofessor, führt ab und an Studenten auf den Burgberg. „Die sind alle begeistert.“ Manchmal laden Gestrings die jungen Leute zu sich nach Hause ein, wo wieder gestaunt wird, über den Bauernhof aus dem 16. Jahrhundert, teils bewahrend, teils hochmodern hergerichtet. Dort gibt es dann deutsche Kost, „Tote Oma“ inklusive. Nicht jedermanns Geschmack, das weiß Heike Gestring. „Aber sie sind höflich und probieren alles.“

Die Gestrings haben vier Kinder. Ihnen geht es gut in Stolpen. Sie sind im Sportverein, gehen tanzen, machen Musik. Was brauchen sie, um auch in Zukunft hier gut leben zu können? Sie und alle anderen? Darüber haben die Gestrings lange nachgedacht. Ihre Antwort: etwas Soziales, etwas, das fürs Herz gut ist und für die Seele.

Und so kam es, dass Stolpen heute sein Gogelmosch-Haus hat. Die Gestrings kauften das einstige Jugendheim im Schatten der Burg und bauten es zur Begegnungsstätte um. Es ist ein Haus, um sich zu treffen und etwas zu lernen, ein Haus, um zu kochen und zu essen, um Sport zu treiben und um Feste zu feiern, um Bücher zu lesen und Trompete zu blasen, um zu lachen und zu weinen – kurz: ein Haus, um zu leben, ein Sammelsurium der kleinen nützlichen Dinge, das der Sachse gemeinhin Gogelmosch nennt. Nicht jedes Angebot taugt für alle. Aber für die, die es gerade brauchen, ist es Gold wert.

Wem es gut geht, der soll sich engagieren für die Allgemeinheit. Das ist Heike Gestrings Credo. Deshalb hütet die studierte Betriebswirtin nicht bloß die Finanzen des Gogelmosch-Hauses. Nein, sie springt auch mal ein, wenn die Köchin krank ist, vermittelt zwischen Mitarbeitern, Besuchern und Kursleitern, sucht nach Lösungen, bis sie welche findet. Sie ist das Gesicht des Hauses, das trotz aller Alltagssorgen das Lachen nicht verlernt hat. „Für das Haus ist sie immer da“, sagt Anne, Heike Gestrings Assistentin, „und sie verbreitet immer gute Laune.“

Wayne Brown lacht auch gern. Zum Beispiel, wenn er daran denkt, wie er Katrin geheiratet hat. Ernesto hat sie getraut, der betagte Friedensrichter eines texanischen Kaffs. Die Piste vor seinem Büro war breit und staubig. Trucks donnerten vorbei. Ein paar Ampeln, ein paar Tankstellen, Ölförderpumpen, die lethargisch mit den Köpfen nickten. Fünf Minuten dauerte der Akt. Es gab keine Gäste. Logistisch war das nicht machbar, sagt Wayne, jedenfalls für die deutsche Seite. Ein Kollege filmte alles, „zum Beweis“. Am Ende betete Ernesto für die beiden. Offenbar hat es geholfen. Bald feiern sie ihren 20. Hochzeitstag.

Familie Brown findet man im Herzen Stolpens, direkt am Marktplatz. Wayne und Katrin sind vor sechs Jahren hergezogen. Kurz darauf kam Töchterchen Juliet an. Eigentlich wollte das Paar, das in Dresden zur Arbeit geht, nicht aufs Land. Doch als die beiden das Häuschen aus dem Inserat in echt sahen, verliebten sie sich. Der Bau stapelt tief mit seiner schmalen, geduckten Fassade. Gut zweihundert Quadratmeter Wohnfläche stecken dahinter, genug selbst für jemanden, der die endlosen Räume Nordamerikas gewohnt ist.

Wayne Brown stammt aus Rhode Island an der Ostküste der USA. Von Haus aus ist er Biologe. Wildtiere sind sein Spezialgebiet. Einen Sommer lang aber war er Manager einer Jugendherberge auf Cape Cod, Massachusetts. Und ausgerechnet da kam Katrin aus der Magdeburger Börde vorbei, auf ihrer Urlaubsreise. Drei Tage Aufenthalt waren genug, um die Zweisamkeit anzubahnen, die Ernesto besiegeln sollte.

Acht Jahre lang lebten die Browns gemeinsam in den USA. Er arbeitete als Wissenschaftler, sie schließlich in ihrem angestammten Beruf, als Buchhalterin. Dann kam der Tag, da sie den Sprung nach Deutschland wagten. Wayne, obwohl des Deutschen kaum mächtig, wollte das Land seiner Frau kennenlernen, wollte dort leben. Wann, wenn nicht jetzt?

Der Integrationskurs mit 600 Stunden Deutsch machte aus Waynes rudimentärem Sprachschatz eine solide Basis, die ihn heute sicher durch den Alltag trägt. Zufrieden ist er noch nicht. Der Anreiz, sich zu steigern, fehlt. Auf seiner Arbeit, wo es um Planungen für internationale Energieprojekte geht, wird viel englisch geredet. Und zu Hause, im Fernsehen, laufen englischsprachige Nachrichten. Es gibt zu viele englische Ablenkungen, sagt Wayne.

In Stolpen freilich, wenn die Nachbarn zusammenkommen, redet er deutsch. Allerdings geht es dann häufig wieder um Amerika. Als einziger Amerikaner weit und breit muss er sich allen Ärger, den andere mit den USA haben, anhören. So kommt es ihm jedenfalls vor. Er gibt sich Mühe, Vorurteile wegzureden. Die Debatten werden bisweilen sehr hitzig. „Ich bin Amerikaner, und ich denke wie ein Amerikaner“, sagt Wayne. Im Grunde machen ihm solche Gespräche ja Spaß. Das Gefühl, wegen seiner Herkunft Probleme zu kriegen, hatte er noch nie.

Landsleute hört Wayne Brown unter den Stolpen-Touristen selten. Wenn doch, so weiß er: Die Burg wird sie in den Bann schlagen, so wie sie ihn in den Bann geschlagen hat. Woher kommt die amerikanische Ehrfurcht vor alten Dingen? Vielleicht daher, dass Amerika so jung ist, und dass sich so vieles so schnell verändert, denkt Wayne. Dass es Bauwerke gibt, die älter sind als die USA, und die noch genau so aussehen wie vor dreihundert oder vierhundert Jahren, das kann sich ein Amerikaner kaum vorstellen. „Für uns ist das wie eine Zeitreise.“

Dieser Beitrag ist dem Magazin „Stolpen 800 – Burgstadt mit Geist“ entnommen. Das 158 Seiten starke Heft gibt es ab 1. Juni zum Preis von 18,50 Euro zu kaufen. Erhältlich ist das Magazin in allen SZ-Treffpunkten und in der Tourist-Information in Stolpen.