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Stärkt den Stolz der Afghanen, statt sie zu kränken

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen. Heute: Jürgen Heiducoff. Der frühere Militärattaché an der deutschen Botschaft in Kabul erklärt, warum die Probleme in Afghanistan nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden können. Mit den Taliban muss seiner Meinung nach verhandelt werden.

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Von Jürgen Heiducoff

Wir alle sind mit dem Problem Afghanistan in eine Sackgasse geraten. Militärische Gewalt löste den Widerstand aus, der sich zu einem Volksaufstand zu entwickeln droht. Es mangelt nicht an gegenseitigen Schuldzuweisungen, inzwischen auch zwischen Partnern aus dem Westen. Nun ist es an der Zeit, gemeinsam – unter Einbeziehung von Führern der bewaffneten afghanischen Opposition – nach Auswegen zu suchen. Dies wird ein langer Prozess von Verhandlungen, Vereinbarungen, Vertrauensbildung und Versöhnung werden, der aber unverzüglich eingeleitet werden sollte. Dieser Neuansatz wird der internationalen Gemeinschaft weitere enorme, auch finanzielle, Belastungen abverlangen. Aber das wäre die Chance, dass die bisher erbrachten Leistungen nicht umsonst waren.

Um es vorweg klarzustellen: Der sofortige Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan wäre kein effizienter Beitrag. Keines der gewaltigen Probleme wäre damit gelöst. Es wäre eine Kapitulation, und die bisherigen Leistungen und Opfer wären umsonst gewesen. Wir dürfen Afghanistan nicht im Stich lassen!

Deutschland führt keinen Krieg in Afghanistan, sagt die Bundesregierung. Ist dann aber die Bundeswehr das richtige Instrument? Die Soldaten sind ausgebildet und ausgerüstet, das Vaterland zu verteidigen und Krieg führen zu können. Die Stabilisierung des Landes am Hindukusch ist nicht mit militärischen Mitteln zu erreichen. Dazu bedarf es des konsequenten Wiederaufbaus der Infrastruktur, einer tragfähigen Wirtschaft sowie sozialer und Bildungseinrichtungen.

Wenn wir argumentieren, starke afghanische Sicherheitskräfte seien die Voraussetzung für den Abzug der internationalen Truppen, so wäre dies kein echter Strategiewechsel, denn auch afghanische Sicherheitskräfte sind ungeeignet, die Kernprobleme des Landes zu lösen. Die Stärkung bewaffneter Sicherheitskräfte – welcher Nationalität auch immer – führt zur Stärkung des Widerstandes, der zum Volksaufstand tendiert. Die Verstärkung der internationalen Truppen ist also ebenso falsch wie die weitere Aufrüstung der afghanischen Nationalarmee und der infanteristisch ausgebildeten Polizei.

Afghanistan braucht Frieden, Anleitung und Investitionen zum Aufbau und Aufbruch durch die Afghanen. Die Energie und der Schwung der Aufstandsbewegung müssen in Richtung Wiederaufbau gelenkt werden. Erste Schritte dazu sind ein Waffenstillstand, der Versöhnungsprozess und ein tragfähiger Friedensvertrag. Dieser langwierige Prozess muss nun endlich eingeleitet werden. Er wird allerdings nicht beginnen können, wenn einige westliche Diplomaten in Kabul Einladungen zu regionalen Waffenstillstandsverhandlungen ausschlagen und dies auf die diplomatische Formel bringen, sie hätten nichts dagegen, wenn die Afghanen Frieden schlössen.

Welche Schritte wären möglich, um den Teufelskreis zu durchbrechen?

keine weiteren Verstärkungen der ausländischen und afghanischen Truppen sowie der privaten Sicherheitsunternehmen;

Truppenentflechtungen, Verlegung der eigenen Hauptkräfte in bisher ruhige Gebiete;

dort forcierter Wiederaufbau bei gleichzeitiger Reduzierung der Truppen;

zeitgleich Waffenstillstandsvereinbarungen regional und landesweit;

Unterbreitung und Annahme tragfähiger Friedensvorschläge;

Verhandlungen mit den Führern der Aufstandsbewegung auf gleicher Augenhöhe;

Einbeziehung aller bewaffneten Kräfte in den Versöhnungsprozess.

Der Trumpf in den Händen der internationalen Gemeinschaft ist die Fähigkeit zur Investition in einen bisher nicht dagewesenen forcierten Wiederaufbau der Afghanen ohne unmittelbare und massive ausländische Militärpräsenz – statt Volksaufstand und Zerstörung ein durch das Volk getragener Aufbruch und Aufbau. Statt der Herausforderung des Stolzes der Afghanen durch Gewalt ist Förderung des Stolzes auf die eigene Aufbauleistung notwendig.

Wenn wir sichtbare Beispiele des mit der Bevölkerung abgestimmten regionalen Wiederaufbaues ohne ständige Militärpräsenz schaffen, würden diese guten Nachrichten schnell in die Gebiete gelangen, die noch unter der Kontrolle Aufständischer sind.

Der forcierte Wiederaufbau bei gleichzeitiger Truppenentflechtung, partiellem Truppenabzug und Waffenstillstandsvereinbarungen – das sollten die Trümpfe der internationalen Gemeinschaft sein. Das dürfte die afghanische Bevölkerung überzeugen. Dem haben die Aufständischen nichts entgegenzusetzen.

Ein Sieg über einen ungleichen Gegner muss nicht auf militärische Mittel und auf Gewalt beschränkt sein, sondern kann mit anderen Mitteln herbeigeführt werden. Wir müssen keinen Krieg führen, um die Menschen einer völlig anderen Kultur für uns zu gewinnen.