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Stadtbücher erzählen vom Leben in Görlitzer Häusern

Wenn man die uralten Einträge entschlüsseln kann. Siegfried Hoche macht das für die Görlitzer Welterbe-Bewerbung.

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© pawelsosnowski.com

Von Ines Eifler

Görlitz. Die Hallenhäuser in der Altstadt sind der größte Schatz, den Görlitz hat. Deren Baugeschichte ist meist gut erforscht. Aber die Leben, die in mehr als einem halben Jahrtausend darin gelebt wurden, sind vergangen und vergessen. Das wird Ratsarchivar Siegfried Hoche nun ändern. Denn nur, wenn die einzigartigen Gebäude auch Geschichten über Menschen erzählen, sind sie interessant für die Unesco. Nur wenn das Bild der Stadt durch sie lebendig wird, haben die 60 Hallenhäuser eine Chance, zum Welterbe erhoben zu werden.

Um die Lebenswege der Besitzer dieser Häuser zu ergründen, bedient sich Siegfried Hoche gerade aus einem weiteren mächtigen Görlitzer Schatz: 6000 Stadtbücher bewahrt das Ratsarchiv. „Nur die ersten beiden Bände sind leider seit 1945 nicht mehr bei uns, sondern in Bunzlau“, sagt der Ratsarchivar. Deshalb edieren Historiker die fehlenden Stadtbücher gerade, morgen beginnt in Zgorzelec eine Tagung dazu. In den Görlitzer Stadtbüchern ist von 1305 an bis um 1800 alles festgehalten, was zwischen Görlitzer Bürgern vor dem Rat vereinbart wurde: Besitzübergänge wie Schenkungen, Verkäufe, Testamente, auch Kredite und Verpfändungen und vieles mehr.

Man sieht diesen vergilbten Seiten zwischen den geschnitzten hölzernen Deckeln nicht an, dass sie Stoff für zahlreiche Geschichten bieten. Für Laien enthalten sie vor allem unentschlüsselbare alte Schriftzeichen, Nummern und Abkürzungen. „Es war auch für mich nicht ganz einfach, alle Zusammenhänge zu deuten“, sagt Siegfried Hoche, obwohl er geübt darin ist, alte Schrift zu lesen. „Aber nach und nach versteht man und kann das meiste zuordnen.“

Sind die ersten Stadtbücher aus dem 14. Jahrhundert noch wenig strukturierte, überaus umfangreiche Sammelsurien von Einträgen aller Art, entstanden im Laufe der Zeit immer speziellere Bücher für die mit der Stadt wachsenden Bedürfnisse an Verwaltung. So existieren ab etwa 1400 Rechnungs- und Gerichtsbücher, Bände mit Briefen aus dem Rathaus, Bücher über Hausverkäufe und die Geschossbücher.

„Geschoss“ war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit das Wort für Steuer. Für Siegfried Hoche sind diese Geschoss- oder Steuerbücher eine besonders reiche Quelle: „Daraus erfahren wir bis aufs Halbjahr genau die Namen der Hausbesitzer“, sagt er, „auch etwas über ihre Besitzverhältnisse und deren Veränderung etwa im Dreißigjährigen Krieg oder durch Stadtbrände.“ Zweimal im Jahr mussten die Görlitzer, Hausbesitzer wie Mieter, eine Vermögenssteuer auf alles zahlen, was sie besaßen. „Auch die mobile Habe wurde besteuert“, sagt Hoche. Was zu dieser Habe gehörte, fand er etwa in Erbbüchern, in denen aufgelistet wurde, was jemand nach seinem Tod weitergab, ob Möbel, Küchengeräte, Hausaltäre, Hirschgeweihe oder Kleidung.

Was für Geschichten sich durch die verschiedenartigen Stadtbücher und ab 1850 durch die Adressbücher zusammentragen lassen, zeigen beispielhaft die großen Tafeln, die in der Ausstellung „Kaufmannspaläste an der Via Regia“ im Hallenhaus Brüderstraße 9 zu sehen sind. 30 Besitzer hat Hoche für dieses Gebäude für die Jahre 1415 bis 1949 ausgemacht. Zehn davon hat er näher beschrieben: Die Familie Canitz etwa besaß das Haus während des großen Stadtbrands 1525. Dass sie davon betroffen war, liest sich im Geschossbuch als Befreiung von der Steuerzahlung. Dazu eine Erzählung, wie der Brand wütete, von Stadtschreiber Johann Haß, und schon lebt die Geschichte.

Ein anderer Besitzer war der Nadlermeister Martin Luft, der im 17. Jahrhundert vom Handwerker zum Kaufmann aufstieg. Er heirate in eine reiche Familie ein und nach dem Tod seiner Frau in eine zweite. Sein Erfolg wird durch den Kauf mehrerer Häuser, Güter, gar Dörfer ersichtlich. Die trockenen Daten aus den Stadtbüchern macht Hoche anschaulich: Mit einem Hausverkauf habe Luft „ein gutes Geschäft“ gemacht, seine zweite Ehe müsse „sehr glücklich gewesen“ sein, denn sechs Kinder gingen daraus hervor.

Bis zum Ende dieses Jahres will Hoche weitere solcher Geschichten von Besitzern der 17 unverbauten Görlitzer Hallenhäuser erforschen, darunter neben Brüderstraße 9 die Häuser Untermarkt 2 und 3, der Schönhof und das Scultetushaus Peterstraße 4. Aus allen Daten, die er aus den Stadtbüchern zusammenträgt, entsteht eine riesige Datenbank, der Kern des Forschungsprojekts zur Welterbe-Bewerbung. Mit den Geschichten der 43 verbauten Hallenhäuser etwa am Obermarkt oder in der Nikolaivorstadt wird sich der Ratsarchivar dann 2019 beschäftigen.

Die wissenschaftliche Tagung, in der es um die Edition des ersten Görlitzer Stadtbuches und weitere Themen der mittelalterlichen Schriftlichkeit geht, beginnt am Donnerstag, 14 Uhr, im Dom Kultury in Zgorzelec und setzt sich am Freitag und Sonnabend im Barockhaus Neißstraße 30 fort. Siegfried Hoche wird sie auch besuchen. „Aber das Thema schmerzt mich auch“, sagt er, „schön, dass das erste Stadtbuch nun für jeden zugänglich wird. Aber auch das Original gehört von Bunzlau zurück nach Görlitz.“

Tagung Donnerstag: 14–20 Uhr, Dom Kultury; Fr 9–17.30 Uhr und Sa 9–11.45 Uhr, Neißstraße 30; Programm: www.geschichte.uni-halle.de/mitarbeiter/speer