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Spiele halten Görlitzer Ur-Uroma fit

Anna Haberzettl wird am Freitag 103. In Weinhübel lebt sie mit vier weiteren Generationen ihrer Familie unter einem Dach.

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© Pawel Sosnowski

Von Ingo Kramer

Görlitz. Weil die Augen nicht mehr so richtig mitmachen, hat Anna Haberzettl zwei extra große Würfel. Und damit sie ihre 77-jährige Tochter Doris Gay besser versteht, nutzt sie ein Hörgerät. Dann aber klappt es gut mit dem Gedächtnisspiel. Sie rechnet die Punkte auf den Würfeln zusammen – und freut sich herzlich, wenn sie anschließend die Holztafel mit der richtigen Zahl umklappen kann. Schnell hat sie wieder einen ihrer zahlreichen Reime auf den Lippen. „Man kann etwas machen: Lachen“, sagt sie – und lächelt verschmitzt.

Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass Anna Haberzettl heute 103 Jahre alt wird. Damit ist sie zwar „nur“ die viertälteste Görlitzerin – aber die älteste, die noch in den eigenen vier Wänden lebt. In Weinhübel teilt sie sich mit den nächsten vier Generationen ihrer Familie ein großes Haus mit einem schönen Garten. „Als sie 100 geworden ist, hatte sie noch keinen Ur-Urenkel, aber jetzt kommt demnächst schon der Fünfte“, sagt Doris Gay. Zwar leben längst nicht alle in Görlitz, aber zumindest einen hat Anna Haberzettl seit vorigem Jahr immer in der Nähe.

Sie blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Geboren 1915 im böhmischen Medanost (heute Medanosy) in der Nähe von Aussig (Usti) als Tochter eines Försters, musste sie schon früh hart arbeiten. „Aber wir haben gut gegessen, es gab ja immer Wild“, erinnert sich die 103-Jährige. Ihr habe immer alles geschmeckt, und das tut es auch heute noch. Das Essen ist ihrer Ansicht nach der Grund, warum sie so alt geworden ist. An den Genen hingegen kann es nicht liegen: Ihre Mutter starb schon mit 59, der Vater mit 73. Auch sonst ist in der Familie noch niemand besonders alt geworden. Von ihren drei Geschwistern lebt noch eine Schwester, aber die ist erst 87.

Auf der Flucht 1945 gelangte Anna Haberzettl im offenen Viehwagen nach Mecklenburg-Vorpommern. Dort blieb sie exakt 50 Jahre, zog vier ihrer sechs Kinder groß, arbeitete zunächst als Schrankenwärterin und später zwölf Jahre lang als Blockwärterin bei der Bahn, musste den frühen Tod ihres Mannes und den Wegzug ihrer Kinder verkraften. Die leben alle über die Republik verstreut. Mit 80 Jahren schließlich zog Anna Haberzettl noch einmal um – nach Görlitz zu ihrer Tochter Doris Gay. Es war der siebente Umzug in ihrem Leben. Noch einen soll es nicht geben. „Solange wir können, betreuen wir sie zu Hause“, sagt Doris Gay. In ihrer schwellenlos ausgebauten Wohnung habe sie alles und finde sich gut zurecht. Alle anderthalb bis zwei Stunden kommt die Tochter zu ihr. Das Essen kocht Doris Gay bei sich und bringt es anschließend zu Anna Haberzettl in deren Wohnung. Erst wenn die Mutter versorgt ist, isst sie mit ihrem Mann Helmut.

Er ist am Sonntag 80 geworden. Grund genug, seinen Geburtstag und den von Anna Haberzettl gemeinsam groß zu begehen. Heute findet im „Zeltgarten“ die Feier für Freunde und Bekannte statt, am Sonnabend die Familienfeier im Schellergrund. Auf die freut sich Anna Haberzettl besonders, denn dann wird sie alle drei noch lebenden Kinder um sich haben, zudem einen Teil der acht Enkel, 16 Urenkel und fünf Ur-Urenkel. Sogar ihre Schwester mit Anhang will noch mal nach Görlitz reisen.

Wenn ihre Tochter ihr berichtet, dass sie schon 103 wird, ist Anna Haberzettl ganz erstaunt. Doch sie schiebt den Gedanken an das hohe Alter schnell beiseite und wendet sich lieber wieder ihren geliebten Spielen zu. Auch die anderen beiden Mitspielerinnen aus ihrer Rommé-Runde sind über 100 Jahre alt geworden: Hildegard Müller starb mit 101, Luise Schmidt ist 102, kann aber nicht mehr spielen. Doch Anna Haberzettl hat jüngere Mitspielerinnen gefunden, in der Familie, aber auch in ihrer Bekannten Christa Hänsel. Neben Rommé steht auch Mensch-ärgere-dich-nicht hoch im Kurs. Ist sie allein, spielt sie Solo-Steckhalma. Im Sommer finden die Spielenachmittage manchmal sogar draußen am Gartentisch von Anna Haberzettl statt. Die steile Treppe hinab kann sie mithilfe der Familie noch bewältigen. So sind alle recht optimistisch, dass die Ur-Uroma noch ein paar Geburtstage feiern kann. Alles Gute!