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Spannung im Hochhaus

Plötzlich in der DDR-Oberliga. Wie Motor Suhl seine Sternstunde erlebt und ein Wohnblock beste Zuschauerplätze bietet.

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© Gerhard Koenig

Von Michaela Widder

Der alte weiße Sicherheitszaun ist verrostet, der Sprecherturm verwaist. Die Tribünen sind mit Gras zugewachsen und auf der Aschebahn wächst das Unkraut. Nur die riesige Wohnscheibe, die einst die besten Plätze für Zuschauer bot, ist abgerissen. Als Erhard Mosert das Auestadion in Suhl nach vielen Jahren das erste Mal wieder betritt, werden Erinnerungen wach. „Innerhalb von vier Wochen musste das Stadion ja erstligatauglich gemacht werden“, sagt der 67-Jährige und zählt auf: Anzeigetafel, Sprecherturm, Sicherheitszaun, Fluchtlichtanlage ... Die Stadt im Thüringer Wald hatte einen Namen im Wintersport und war bekannt durch ihr Simson-Werk. Aber Fußball?

Er kann sich noch gut an die Unterwassermassagen nach dem Training erinnern. Jetzt dient der Raum als Kleiderkammer für die Landesklasse-Fußballer.
Er kann sich noch gut an die Unterwassermassagen nach dem Training erinnern. Jetzt dient der Raum als Kleiderkammer für die Landesklasse-Fußballer. © Gerhard Koenig
Matthias Sammer (l.) im Spiel gegen Motor Suhl – allerdings ist das nicht die Oberliga-Partie im Mai 1985, die Dynamo mit 8:3 gewann. Suhl war auch Gegner der zweiten Mannschaft in der DDR-Liga, zu Pokal- und Testspielen.
Matthias Sammer (l.) im Spiel gegen Motor Suhl – allerdings ist das nicht die Oberliga-Partie im Mai 1985, die Dynamo mit 8:3 gewann. Suhl war auch Gegner der zweiten Mannschaft in der DDR-Liga, zu Pokal- und Testspielen. © Joachim Thoß

Auch wenn ein Hans Meyer während seiner Ausbildungszeit für die BSG Motor Suhl spielte, blieb es in der DDR-Fußballwelt lange ein „nichtssagender Verein“, meint zumindest Mosert. Dass er überhaupt in der Provinz gelandet ist, war nie geplant. In den 1960er-Jahren galt er als eines der größten Talente im Land und brillierte als Mittelfeldregisseur der DDR-Juniorenauswahl. Udo Lattek, damals der Trainer der westdeutschen Juniorenauswahl, stellte ihn sogar mal mit Franz Beckenbauer auf eine Stufe. Mit 19 Jahren machte er sein erstes Länderspiel für die DDR, und es sollte sein letztes bleiben.

Seine Karriere beim Oberligisten Hallescher FC wurde in einer Nacht gestoppt. Im September 1971 sollte er mit seiner Mannschaft zum Rückspiel im Uefa-Cup in Eindhoven antreten. In der Nacht zuvor brach jedoch im Hotel der Hallenser ein Feuer aus, ein Mitspieler starb. Mosert sprang barfuß aus dem Fenster, erst auf ein Zwischendach, dann hinunter, wo er zwischen Flaschen landete. „Es waren zwölf Meter“, sagt Mosert und hält kurz inne: „Ein Sprung ins Nichts.“ Noch heute werde ihm speiübel, wenn er die alten Aufnahmen sieht. Sein Arm war zerschmettert, das Sprunggelenk fünffach gebrochen.

Durch die Verletzung hatte Mosert erhebliche Sprungkraft seines linken Beins eingebüßt, was für ihn praktisch das Ende des Hochleistungssports bedeutete. Er spricht von „Schmerzen ohne Ende“, wie er sein „Bein nachziehen“ musste. Und dann entschied er: „Ich mache Schluss.“ Er war damals Anfang 20 und musste extra nach Berlin, eine Petition unterschreiben, dass er nie wieder Leistungssport betreibt.

Trotzdem war er als Edeltechniker noch gefragt und ging 1973 zum DDR-Ligisten nach Suhl, wo er nebenbei sein Studium beendete. Bis 14 Uhr gingen die Fußballer im Simson-Werk arbeiten, danach trafen sie sich zum Training. „Ich hatte einen Top-Job, konnte nebenbei noch Fußball spielen“, sagt er. An einen Aufstieg habe er nie gedacht, trotzdem schaffte die BSG 1984 den Sprung in die höchste Spielklasse. „Es war ein Unfall. Davon hat doch keiner geträumt. Wir wollten eigentlich nicht aufsteigen.“

Doch in der Stadt brach plötzlich eine Fußball-Euphorie aus, die es vorher noch nie gegeben hatte. Schon in der Aufstiegsrunde fieberten viele Suhler vor den Radios mit. Es war also keine Frage, dass man diese Sternstunde auskosten wollte. Mosert, inzwischen bereits 34 Jahre alt und mit der Erfahrung von fast 70 Oberliga-Spielen, stand vor seinem Comeback in dieser Liga. „Jeder hat mich gefragt: Wie machen wir es?“ Doch auf ihn gehört hatte niemand so richtig. Ihm war klar: „Du kannst nicht mit zehn jungen Leuten die Oberliga rocken.“

Es blieb nicht viel Zeit. Innerhalb von fünf Wochen brauchte Suhl ein erstligataugliches Stadion, zu dem unter anderem eine Anzeigetafel, ein Sprecherturm, Sicherheitszaun sowie ein Sozialgebäude mit Unterwassermassage gehörten. Der Zuschauerblock mit der besten Aussicht musste dagegen nicht erst gebaut werden. Zehn Meter hinter der Gegengeraden stand ein typischer Plattenbau, 1 000 Meter lang und 13 Stockwerke hoch. Die BSG hatte natürlich bei jedem Heimspiel 300 Zuschauer extra. In der sogenannten Wohnscheibe wurden auch Fernsehkameras aufgestellt.

„Zum ersten Spiel gegen Frankfurt kamen rund 15 000 Zuschauer. Das war schon was“, erinnert sich Mosert: „Doch die Motivation war schnell weg, wenn man in jedem Spiel seine Grenzen aufgezeigt bekommt.“ In der gesamten Saison gab es den einzigen Sieg gegen Aue. Damit liegt Suhl in der ewigen Oberliga-Tabelle auf dem 44. und letzten Platz. Suhl gehörte zu den wenigen BSG-Mannschaften, die es nur mal für ein Jahr beinahe versehentlich in die höchste DDR-Liga geschafft hatten.

Damals hießen die Gegner Dresden und Jena, jetzt sind es Herpf, Gospenroda oder Borsch. Der Suhler SV, in den die BSG nach der Wende umbenannt wurde, spielt in der Landesklasse, also in der siebenten Liga und steht kurz vor dem Abstieg in die Kreisoberliga. Dann würde der Klub von der Thüringer Fußballkarte verschwinden.

Das Problem ist kein neues: Es gibt kaum Sponsoren, die Mannschaft ist jung. Und während in der Umgebung kleine schmucke Stadien zum Teil mit Kunstrasen entstanden, lebt in der Auestraße die Nostalgie. Das Vereinshaus hat den Charme einer DDR-Baracke, es riecht nach altem Männerschweiß. Nur die Wanne für die Unterwassermassage ist außer Betrieb.

Am Montag lesen Sie: Wieso der kleine Wismut-Bruder aus Gera nicht aufsteigen durfte – und es doch schaffte.