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Später Besuch in einer wunden Stadt

Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft in Chemnitz auf viele fragende Bürger – und lässt viele irgendwie ratlos zurück.

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© AFP

Von Annette Binninger und Tobias Wolf

Der Tag von Angela Merkel in Chemnitz beginnt sportlich. In der Halle der Niners, auf einem Basketballfeld. Die Jugend-Mannschaften trainieren, während sich die Kanzlerin am Spielfeldrand die Vereinsgeschichte erläutern lässt. Dann schüttelt sie allen die Hand, auch dem Trainer Mohammed Hajjar. Er war ein gefeierter Basketball-Star in Syrien, bis er vor fünf Jahren den Kriegswirren von Aleppo entfloh.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht neben Torsten Kleditzsch, Chefredakteur der Freien Presse, mit mehreren Lesern. Anlass für den Chemnitz-Besuch der Kanzlerin ist eine tödliche Messerattacke vor rund drei Monaten auf einen Deutschen und darauf f
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht neben Torsten Kleditzsch, Chefredakteur der Freien Presse, mit mehreren Lesern. Anlass für den Chemnitz-Besuch der Kanzlerin ist eine tödliche Messerattacke vor rund drei Monaten auf einen Deutschen und darauf f © dpa

Hinter verschlossenen Türen gibt es ein Gespräch mit der Kanzlerin. Zwei junge Spieler zeigen sich hinterher beeindruckt. Merkel habe Fragen gestellt und auch zugehört. Zu Chemnitz, Flüchtlingen und rechtsextremen Demonstrationen. Das Fazit: „Chemnitz ist nicht so, wie es im August war“, sagt der 17-jährige Robert Marmai. Merkel habe von ihrem Alltag erzählt, wie sie mit Sicherheitsleuten in Berlin einkaufen geht, erzählt Dominic Tittmann. Man solle locker bleiben, habe Merkel den Jungs mitgegeben, quasi als Rezept für die Probleme des Lebens. Merkel kann es selbst gut gebrauchen an diesem Tag.

Vor der Halle liegt eine Stadt im Ausnahmezustand. Die Umgebung ist weiträumig mit Gittern abgesperrt. Der Veranstaltungsort liegt wohl nicht ganz zufällig in unmittelbarer Nähe der Polizeidirektion. Jedes Auto wird kontrolliert. Taschen und Besucher werden durchleuchtet. Über der Halle kreist ein Polizei-Hubschrauber.

Der Ort, an dem die Kanzlerin auf die Bürger trifft, ist die alte Hartmann-Fabrik, in der einst Sachsens „Lokomotiven-König“ Maschinen fertigte. Sie liegt zwischen den neuralgischen Punkten, die Chemnitz seit dem gewaltsamen Tod von Daniel H. am 26. August auf der Brückenstraße weltweit in die Schlagzeilen gebracht haben. Am „Nischl“, dem Karl-Marx-Denkmal, demonstrierten Rechtsextreme nach dem Tod des Chemnitzers. Noch laufen die Ermittlungen. Asylbewerber sollen ihn mit einem Messer erstochen haben. Auf der Schloßteichinsel, nicht weit von der Polizeidirektion, traten Rechtsextreme als Bürgerwehr auf und verletzten Migranten.

Es gibt einfachere Orte für einen Auftritt der Kanzlerin. Aber sie will mit dem Besuch ein Zeichen setzen, mit möglichst vielen Chemnitzern ins Gespräch kommen, auch mit 120 Lesern der Freien Presse. Vier von ihnen sind auserwählt, direkt mit der Kanzlerin zu diskutieren, die anderen dürfen später fragen. Fast alle sind aus Chemnitz, ein paar aus dem Erzgebirge. Einige sind eingeladen worden, heißt es von der Regionalzeitung. Die meisten Plätze wurden verlost. Gut 70 Journalisten sind vor Ort – bis hin zur New York Times.

Jörn Schindelbeck ist aus Thalheim angereist. Er sieht sich als Merkel-Kritiker und hofft auf Antworten zur Flüchtlings-und zur Bildungspolitik. „Man hat nicht so oft die Chance, Fragen an die Kanzlerin zu stellen, vielleicht ist das die letzte Gelegenheit vor dem Rücktritt.“ Ihn ärgere, dass Sachsen zu Unrecht als rechtsextrem dargestellt werde. „Ich wurde in Düsseldorf am Dialekt erkannt und gefragt, ob ich ein Nazi sei“, sagt er. Barbara Müller aus Sehma im Erzgebirge will vor allem zuhören. „Ich möchte hier die verschiedenen Meinungen zu den Vorkommnissen seit August in Chemnitz hören und was Frau Merkel darüber denkt“, sagt die 64-Jährige.

„Warum sind sie eigentlich in Chemnitz“, fragt der 43- Jahre alte Dirk Richter, die Kanzlerin und meint damit auch: Warum erst jetzt? Merkel erklärt umständlich, dass sie von SPD-Bürgermeisterin Barbara Ludwig schon früh nach dem Tod von Daniel H. eingeladen worden sei. Sie habe nicht in aufgewühlter Stimmung kommen wollen. „Ich weiß aus dem Wahlkampf, dass ich ein Gesicht habe, das Menschen polarisiert.“ Mancher im Publikum nickt.

Merkel hat es schwer, die Atmosphäre ist frostig. Es gelingt ihr nicht, mit Charme und Witz zu punkten. Sie quält sich mühsam, manchmal fast verwundert über die Fragen. Auch als es um das Bild von Chemnitz und das von Sachsen geht. Merkel versucht es mit Streicheleinheiten: „Sie sind ein Volk, das immer Ideen hat und kreativ ist und anpackt“, sagt sie. „Sie haben allen Grund stolz zu sein, auf das, was sie ausmacht, auf ihre Geschichte.“ Schweigen im Saal. Klaus-Peter Olivo beklagt die Berichterstattung nach den Demos in der Stadt. „Das war mediale Zerfetzung.“. Merkel kontert mit Pressefreiheit, auch wenn viele ihre Heimat gern positiv dargestellt sähen. „Die Bilder waren zum Teil sehr schrecklich“, sagt sie. „Sie sollten ihre Stimme erheben für ihre Stadt“, macht sie Mut.

Dann kommt das Thema Flüchtlinge. Ihr Satz „Wir schaffen das“ wird kritisiert. Merkel kontert: „Was für eine Bundeskanzlerin wäre ich, wenn ich bei so einer Aufgabe nicht sagen würde, wir schaffen das.“ Sie spricht über das EU-Türkei-Abkommen und sagt, der eigentliche Fehler sei vor 2015 gemacht worden, als man die Flüchtlinge nicht nahe ihrer Heimat ordentlich versorgt habe. Aber der Satz „Wir schaffen das“, er schwebt über der Debatte mit der Kanzlerin, die wie entfremdet von ihren Bürgern wirkt.

Nur kurz schafft es die Internistin, Charlotte Agnes Klafki, den Ärztemangel anzusprechen. Etwas Beifall, wieder Migration. Das sei nicht zu schaffen, Merkel spalte Europa, wirft ein Chemnitzer mit Mikro in der Hand der Kanzlerin vor.

Von draußen dringen Sprechchöre der Pro-Chemnitz-Demonstranten herein. „Hau ab“, „Merkel muss weg“ – im Raum selbst sind sie nicht zu verstehen. Drinnen wird der Fragesteller ganz direkt: „Wann treten sie zurück, Frau Merkel?“ Die Kanzlerin bleibt regungslos, erläutert noch ein wenig ihre Flüchtlingspolitik. Dann, wie zur eigenen Verteidigung, bekräftigt sie nur noch einmal, dass sie doch den CDU-Vorsitz aufgebe. Beifall gibt es kaum. Nur eine Frau steht auf, um Merkel den Rücken zu stärken. „Ihre Entscheidung damals war richtig, sachlich und menschlich.“ Ali Sahan, Schüler am Chemnitzer Goethegymnasium und Vorstand im Stadtschülerrat sagt, er wundere sich, dass nicht über Bildung gesprochen werde. Merkel redet routiniert über Lehrermangel. Das kann sie.

Kurz darauf ist die Debatte vorbei. Barbara Müller aus dem Erzgebirge ist ein bisschen enttäuscht: „Sie hat souverän geantwortet, aber viele wichtige Themen wie Bildung sind nicht wirklich zur Sprache gekommen.“ Norman Baumann ist ratlos. „Meine Generation hat später ein Rentenproblem, wer soll das finanzieren“, sagt der 32-Jährige aus Zwickau. Er findet, ohne Zuwanderung werde nichts besser, auch wenn viele das glaubten. Chemnitz ist noch nicht wieder zur Ruhe gekommen.