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Die Schätze vom „Postkartenleo“

An der Carolabrücke stand bis 1945 ein angesagtes Geschäft mit dem größten Ansichtskartenangebot der Stadt. Einige Kunden waren abgedreht.

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© Sammlung: Wolfgang Leonhardt/Repros René Meinig

Von Lars Kühl

Mit der Barmherzigkeit einer Gräfin begann alles. Auf Umwegen. Denn als Elisa von der Recke im frühen 19. Jahrhundert zwei bedürftige Brüder bei sich aufnahm, ahnten weder sie noch die Kinder, dass dies der Anfang von Dresdens ältestem und größtem Spezialgeschäft für Ansichtskarten war, das auch den internationalen Vergleich nicht scheuen brauchte. Bis zu seiner Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkrieges stand es auf der Ziegelstraße 2, an der Ecke zur Pillnitzer Straße.

Über dem Eingang des Geschäftes an der Ziegelstraße2 gab es ein großes Bild mit Lok-Motiv.
Über dem Eingang des Geschäftes an der Ziegelstraße2 gab es ein großes Bild mit Lok-Motiv. © Sammlung: Wolfgang Leonhardt/Repros René Meinig
Johannes Leonhardt gründete zwar die Familienfirma nicht, machte sie aber mit seinen Postkarten aus aller Welt berühmt. Er starb im Dezember 1930.
Johannes Leonhardt gründete zwar die Familienfirma nicht, machte sie aber mit seinen Postkarten aus aller Welt berühmt. Er starb im Dezember 1930. © Sammlung: Wolfgang Leonhardt/Repros René Meinig

Doch der Reihe nach. Einer der aufgenommenen Jungen, Ernst Moritz Leonhardt, entschied sich für eine Buchbinderlehre. Die Gräfin kaufte ihm später eine Werkstatt. 1830 wurde das Familienunternehmen begründet. Nach einigen Umzügen und der Weitergabe des Wissens über mehrere Generationen kaufte Johannes Felix Leonhardt, der am 13. Oktober vor 150 Jahren geboren wurde, 1893 ein Papiergeschäft auf der Ziegelstraße, zunächst die Nummer 9. Zwei Jahre später siedelte auch die Buchbinderwerkstatt dorthin.

Der neue Standort nahe der Carolabrücke brachte den erhofften Erfolg. Johannes Leonhardt war umtriebig, hatte Sinn für Zeitgemäßes und viele eigene Ideen. Die konnte er in der Enge des Ladens nicht alle verwirklichen. Deshalb erweiterte sich das Unternehmen 1905 und zog in das Haus an der Ecke zur Pillnitzer Straße. Fortan gab es nicht nur alle möglichen Schreibwaren und im oberen Stockwerk eine ständige Ausstellung mit Verkauf von Beschäftigungskarten nach dem Fröbelkonzept für Kindergärten, die das Haus fast weltberühmt machten (Dresdner Fröbelhaus). Johannes Leonhardt konnte nun auch seinen Postkarten-Bestand ausbauen. Denn er hatte begonnen, Gruß-Motive aus aller Welt zu beschaffen. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert erlebte die Ansichtskarte einen riesigen Aufschwung. Auf diesen Zug war Leonhardt aufgesprungen. Dazu passt, um beim Bild zu bleiben, dass Lokomotiven zu seiner großen Leidenschaft wurden. Die Sammlung suchte deutschlandweit ihresgleichen. Doch er hortete die Karten nicht für sich, sondern verkaufte sie.

An dieser Stelle ist es Zeit, dass Wolfgang Leonhardt sein Taschenmesser auspackt. Er ist der Enkel von Johannes Leonhardt, sitzt betagt mit seiner Cousine Ursula Georgiew vor alten Alben und erzählt von der Geschichte des Unternehmens. Vorsichtig fummelt er die herausgenommenen Karten mit der Messerspitze wieder in die Halteecken. Die Alben hat sein Vater Walter, ganz in der familiären Buchbindertradition, einst selbst gefertigt. Ihm ist es auch zu verdanken, dass die aufregende Zeit in „Dresden um 1900“ nicht vergessen ist. Seine handgeschriebenen „Erzählungen aus meiner Kindheit und Jugend“ hat Wolfgang Leonhardt in Buchform gebracht. Vieles im Familienleben spielte sich damals im Spezialgeschäft ab. Während die Kinder aus den selbst hergestellten Fröbel-Faltpappekarten alles Mögliche basteln konnten, kam die Kundschaft wegen der Ansichtspostkarten von weit her.

Johannes Leonhardt hatte begonnen, auch als Verleger zu arbeiten. Seine Spezialgebiete waren Dresden sowie Böhmen und natürlich die Lokomotiven (mit technischen Daten auf der Rückseite). Er engagierte einen Fotografen, mit dem er viel unterwegs war. Ausflugsgaststätten waren ein gern genommenes Motiv. Nicht selten stellte sich Leonhardt mit „auf das Foto“. Zudem wurde festgehalten, was gerade passierte. Hochwasser, die zugefrorene Elbe oder die Mobilmachung für einen Krieg.

Der Bestand wuchs ins Gigantische. Die Karten lagerten getrennt von einem Stück Seidenpapier. Der Verlag war die Nummer 1 in der Stadt, obwohl die Konkurrenz mit Brauneis, Adam und Köhler groß war. Während Johannes Leonhardt das Aushängeschild war, schmiss seine Frau Therese den Laden, erinnern sich ihre Enkel. „Sie hatte acht Schaufenster zu bewältigen“, sagt Wolfgang Leonhardt.

Sein Vater hat in seinen Erinnerungen lebhaft das Erfolgsgeheimnis geschildert: „Die Laufkundschaft wurde magnetisch angezogen und kam herein, erst aus Neugierde, dann aus Überzeugung, denn bald hatte sich’s herumgesprochen, dass man beim ,Postkartenleo‘ beinahe alles kaufen konnte, was irgendwie mit Papier zusammenhing.“ Der Chef hatte hinten seine „auswärtige Ecke“. „Dort, in seinem Reiche, bot er seinen Postkartenkunden die Schätze aus aller Welt und den Sammlern seine Raritäten an.“ Unter ihnen waren Berühmtheiten und seltsame Gestalten. Wie ein Stammkunde, elegant gekleidet, mit weißem Vollbart. Er löhnte selten sofort, beschwichtigte aber mit Zigarren und Schokolade für die Kinder. Als er starb, hinterließ er 80 Alben mit je 1 000 Postkarten. Seine Witwe hatte keine Verwendung und brachte sie zurück. Die Hälfte war nicht bezahlt. Oder die Jungfer aus Leipzig. Sie kam immer am zweiten Osterfeiertag. Mit den Panoramakarten tapezierte sie ein leeres Zimmer. Durch ein Opernglas betrachtete sie die Ansichten. Es war ihre Art von einer Weltreise. Eine solche plante auch Clara May. Die Siebzigjährige wollte alle Länder sehen, die ihr Mann Karl May beschrieben hatte. Sie bestellte dafür bei „Leonhardt“ 1 000 Ansichtskarten. Ein Freund sollte sie vor Reiseantritt schreiben und adressieren.