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Russische Männer werden nicht alt

Viele erreichen nicht das bisherige Renteneintrittsalter von 60 Jahren. Das wird nun ab Januar 2019 erhöht.

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© AFP

Von Klaus-Helge Donath, SZ-Korrespondent in Moskau

Sergej Iwanowitsch trägt einen Blaumann, über seiner Schulter schwingt eine lange Metallstange. Der Elektriker ist hochgewachsen und von kräftiger Statur. Der 59-Jährige arbeitet als Angestellter bei einem Moskauer Gebäudeservice. Er sei ein Glückspilz, sagt er. In wenigen Tagen feiert er seinen 60. Geburtstag, und er wird an seinem Arbeitsplatz bleiben. Gleichzeitig wird er eine Rente beziehen und Altersvergünstigungen in Anspruch nehmen – wie jeder fünfte der rund 46 Millionen russischen Rentner.

Ein Glückspilz ist Sergej, weil die neue Rentenreform erst im Januar 2019 in Kraft tritt. Schrittweise soll danach das Eintrittsalter für Männer von 60 auf 65 Jahre und für Frauen von 55 auf 63 Jahre angehoben werden.

„Mich hat die Reform nicht überrascht. Seit Jahren wurde darüber geredet“, sagt Sergej. Erstaunt sei er allerdings, mit welcher Eile das Unternehmen jetzt angegangen werde. Dem Staat fehle Geld. Mit der Reform wolle er Ausgaben einsparen, meint er.

Die Reform ist der größte Eingriff seit den 30er-Jahren. Sie empört die angehenden Rentner. Die meisten empfinden es als einen Vertragsbruch des Kremls. In der frühen Rente sahen sie ein Grundrecht, das nie angetastet wurde. Mit dem bescheidenen Ruhegeld waren sie zwar nie zufrieden, doch die Möglichkeit, in den ersten Jahren des Rentnerdaseins dazuzuverdienen, ließ sie stillhalten.

Vor allem Männer fürchten, um ihr Ruhegeld geprellt zu werden. Laut der Statistikbehörde Rosstat liegt ihre durchschnittliche Lebenserwartung bei 67 Jahren. Bis 65 zu arbeiten, kommt für sie deshalb nicht infrage. Frauen können immerhin mit 77 Jahren rechnen. Im internationalen Vergleich landet Russland bei der Lebenserwartung hinter den anderen europäischen Staaten und vielen weiteren Ländern auf Platz 113. Auch die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken und selbst Nordkorea stehen besser da.

Ein wichtiger Grund dafür ist die vielfach schlechte Gesundheitsversorgung. Vielerorts kommt diese nicht an jene der Hauptstadt Moskau heran, dessen Bürger mit 77 Jahren Lebenserwartung vergleichsweise rüstig sind – anders als in einigen Regionen des Fernen Ostens, wo Männer nicht einmal das frühere Eintrittsalter von 60 Jahren erreichen. Sergej geht zweimal jährlich zu seiner „Herzdame“, so nennt er die Kardiologin scherzhaft, die in einer Klinik für Angestellte der Präsidialverwaltung praktiziert. Seine Frau ist im Präsidialamt beschäftigt und darf den Gatten dort kostenlos mitversorgen lassen.

Raubbau mit der Gesundheit

Schon außerhalb Moskaus wird die Versorgung mit Technik und Medikamenten schlechter. Seit 2002 hat der Staat die Hälfte aller Krankenhäuser schließen lassen. Schon in der Sowjetunion war die Gesundheitsversorgung unterfinanziert. Bis in die 60er-Jahre hinein gelang es, die Sterblichkeitsrate bei Infektionskrankheiten zu senken. Bei Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen jedoch konnte Russland nicht mit Fortschritten im Westen mithalten.

Nach wie vor gehört in Russland der Alkoholkonsum zu den häufigsten Sterbeursachen. Fast 40 Prozent aller Todesfälle im Alter zwischen 15 und 54 Jahren hängen damit zusammen. Rund 20 Jahre verkürzt der Alkohol das Männerleben, obwohl der Konsum laut Russlands Chefdemograf Anatoli Wischnewski um fast ein Drittel auf nun 13 Liter reinen Alkohol pro Jahr gesunken ist. Für Deutschland geben Statistiker einen Wert von 11,4 Liter pro Jahr an.

Äußere Faktoren sind nach wie vor weitere häufige Ursachen für Todesfälle. Doch auch sie sind meist alkoholbedingt: Verkehrsunfälle, Gewalt, Morde und Selbstmorde stehen in der Statistik ganz weit oben. In anderen europäischen Staaten tauchen diese Todesursachen nur noch am Rande auf. Risikobereitschaft und Leichtsinn der russischen Männer im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz wirken verschärfend.

Vor Jahren schon legte die Regierung im Auftrag von Präsident Wladimir Putin ein Antialkoholkonzept 2020 vor. Es regulierte Bezug und Verkaufszeiten für Alkoholgetränke und ordnete Mindestpreise an. Regierungschef Dmitri Medwedjew regte nun aber an, Bier und Wein wieder an Tankstellen zu verkaufen.

Putin bleibt unterdessen eisern. Er ordnete an, alles zu tun, um bis zum Ende seiner Amtszeit 2024 die Lebenserwartung der Russen auf 78 Jahre hochzuschrauben. Dagegen hätte auch Sergej Iwanowitsch nichts einzuwenden.