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Rollender Wechsel

Bis zu 150 Fahrzeuge rüsten derzeit die Mitarbeiter der Vergölst-Werkstatt in Bautzen pro Woche von Sommer auf Winter um. Für Lkw braucht es dafür sogar Maßschneider.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach (Text) und Uwe Soeder (Fotos)

Bautzen. Die stampfenden Rhythmen der Fluch-der-Karibik-Titelmusik dröhnen durch die Werkstatt. Wie zur Aufmunterung läuft beim ersten eisigen Herbstwind der Internetsender „Sunshine Live“ im Radio beim Vergölst Reifen+Autoservice in Bautzen. Hit reiht sich an Hit. Es ist kurz nach acht. Die Männer von Michael Wenke wissen, heute heißt es wieder Reifenwechsel im Akkord. „Letzte Woche war ja quasi noch Sommer, aber jetzt wollen alle gleichzeitig ihre Fahrzeuge winterfit bekommen“, sagt der Niederlassungsleiter. Ein Schwall kalte Luft kommt durch das geöffnete Werkstatttor hinein.

Bevor die Räder wieder angebaut werden, werden sie ausgewuchtet. Dafür werden kleine Gewichte an der Felge befestigt.
Bevor die Räder wieder angebaut werden, werden sie ausgewuchtet. Dafür werden kleine Gewichte an der Felge befestigt. © Uwe Soeder
Stefan Funke kümmert sich um die großen Lkw-Reifen. Er sorgt dafür, dass die Giganten noch einen Winter rollen können.
Stefan Funke kümmert sich um die großen Lkw-Reifen. Er sorgt dafür, dass die Giganten noch einen Winter rollen können. © Uwe Soeder
Dietmar Beier ist der Logistiker in der Werkstatt. Er sorgt permanent für Rädernachschub aus dem Lager und schafft Platz für die zur Einlagerung nachgelassenen Sommerreifen.
Dietmar Beier ist der Logistiker in der Werkstatt. Er sorgt permanent für Rädernachschub aus dem Lager und schafft Platz für die zur Einlagerung nachgelassenen Sommerreifen. © Uwe Soeder

Kfz-Mechatroniker Benjamin Trumpler steuert den Mercedes auf die Scherenrampe. Sein Kollege Konieczko Bartek winkt ihn an den richtigen Platz. Die Handbremse wird nicht angezogen. Im Kofferraum liegen die mitgebrachten Winterreifen. Sie kommen zur Auswuchtmaschine. Währenddessen fährt das Auto per Knopfdruck bis auf Brusthöhe nach oben. Dann packt Benjamin Trumpler vier Kunststoffziegel unter die Schweller – das Rückgrat der Karosse sozusagen – fast auf Höhe der vier Türen. Nochmals hebt er das Fahrzeug ein Stück höher, sodass die Räder sich frei in der Luft drehen können. Jetzt wird es laut.

An Säulen links und rechts der drei Arbeitsbühnen in der Werkstatt liegen die Werkzeuge griffbereit. Der Vergölst-Mitarbeiter holt den Schlagschrauber und lockert zuerst die Radmuttern. Konieczko Bartek dagegen kümmert sich um das Auswuchten der mitgebrachten Räder. Schließlich soll auch dieser Kunde nicht länger als eine gute halbe Stunde auf sein Auto warten. Der Kfz-Mechaniker aus dem polnischen Bogatynia entfernt zuerst die kleinen grauen Trimmgewichte an der Felge und setzt den ersten Winterreifen auf eine Welle der Auswuchtmaschine. Rotierend ermitteln Sensoren anschließend, ob eine Unwucht besteht.

Sie gleicht Konieczko Bartek mit kleinen, unterschiedlich schweren Gewichten an der Felge aus.

Wohlfühlprogramm für die Räder

Doch die Zeit drängt. Dietmar Beier steht schon mit einer Fuhre mitgebrachter Räder aus dem Lager zum Auswuchten bereit. Der 57-Jährige ist der Logistiker der Werkstatt. Er stapelt ab, er stapelt auf. Die gerade gewuchteten Räder müssen schnell noch in die Waschmaschine. Ein Knopfdruck und das Wohlfühlprogramm mit warmem Wasser und ein paar Miniplastikkügelchen beginnt. Narbe und Felge erhalten dagegen von Kfz-Mechatroniker Benjamin Trumpler ein paar Streicheleinheiten - mit einer rotierenden und bürstigen Reinigungsscheibe. „Mit dem Keks“, sagt der 29-Jährige, „entfernen wir alte Rückstände, damit wir im Frühling die Winterreifen ohne Probleme abmontieren können.“

Die Mercedes-Räder liegen wieder sauber auf Höhe des linken, vorderen Kotflügels. Mit einer Stablampe leuchtet Benjamin Trumpler dorthin, wo eigentlich das Rad sitzt. „Ich schaue, ob alle Kabel intakt sind, ein Schlauch gerissen ist oder irgendwo Öl ist, wo es nicht hingehört“, sagt er und ist schon wieder einmal rum um sein Auto. Beim nächsten Gang steckt er wieder die Räder auf. 30 Minuten sind gerade vergangen. Mit dem Schlagschrauber zieht er die Radbolzen fest. Dann kommt nochmals Muskelkraft zum Einsatz. Mit dem Drehmomentschlüssel verankert er jede Schraube nochmals immer über Kreuz. 8.37 Uhr fährt das Auto nach unten. Piraten-Kapitän Jack Sparrow wäre in dieser Zeit im „Fluch der Karibik“-Kino-Hit wohl gerade aus dem Hafen ausgelaufen.

Die Bautzener Vergölst-Mannschaft wirkt dagegen auch wie eine Schiffs-Crew. Alle ziehen an einem Strang. Ihr Kapitän Michael Wenke hat den Reifenservice aus dem Agrochemischen Zentrum (ACZ) in Kubschütz noch unter der Fahne der Vogtländischen Reifenwerke nach der Wende aufgebaut. Seinen Beruf hat der Kfz-Mechaniker im Autoreparaturwerk gelernt, später schraubte er in der Skoda-Werkstatt in der Muskauer Straße. Im ACZ unterrichtete er schließlich Schüler bis 1989 im Fach „Polytechnik“. Manche von ihnen bringen bis heute ihre Autos zum Reifenwechsel in die Wilthener Straße. Dort sitzt die Vergölst-Niederlassung seit 20 Jahren.

Bis zu 150 Autos pro Woche

Das Telefon klingelt. Ein Kunde möchte einen Termin vereinbaren, möglichst schnell. „Manche haben vergangene Woche den Reifenwechsel aufgrund der sommerlichen Temperaturen noch mal verschoben. Mit dem ersten Nebel beginnt im Herbst unsere Hoch-Zeit“, sagt der 55-Jährige. Zu seiner Crew gehören sieben Mann, in der Saison kommen Aushilfen dazu. Bis zu 150 Autos schieben sie derzeit pro Woche durch die Werkstatt. Der Anrufer kann sein Fahrzeug am Donnerstag vorbeibringen. Beliebte Stoßzeiten sind am Morgen – und ab 15 Uhr, wenn viele Feierabend machen.

An Dienstschluss ist für die Vergölst-Mannschaft noch lange nicht zu denken. Dietmar Beier sorgt permanent für Rädernachschub aus dem Lager für die geplanten Wechsel und schafft die zur Einlagerung nachgelassenen Sommerreifen wieder nach oben. Auf zwei Hubbühnen stehen schon wieder radlose Pkw, unter der dritten Rampe kümmert sich Ronny Thomas um einen Audi, Baujahr 1992. Neben den Winterreifen soll dieser fahrende Kunde Tüv bekommen. Dafür braucht es aber ein paar mehr Handgriffe als für die „Fußpflege“, wie der Kfz-Mechaniker sagt. Er setzt sich die Schweißmaske auf. Beim Auspuff muss eine durchlässige Stelle abgedichtet werden. Durch das geöffnete Tor kommt wieder eine eiskalte Brise in die Werkstatt. Ein Auto fährt raus, ein Auto fährt rein. Konieczko Bartek winkt den nächsten Gast auf Zeit auf den vorgegebenen Platz auf der Hebebühne. Der Kfz-Mechaniker hat seine eigene Werkstatt in Polen derzeit zugeschlossen, um den Kollegen im 65 Kilometer entfernten Bautzen zu unterstützen. Drei Wochen ist er inzwischen da, eine Stunde Arbeitsweg macht er jeden Tag. Jetzt lockert er mit dem Schlagschrauber die Muttern. Wie in einer Choreografie läuft er um das Auto herum. Es dauert nur ein paar Minuten, da kann Dietmar Beier die vier Räder schon wieder auf die Karre mit den zwei dünnen Greifarmen laden, die ein bisschen an die Scheren eines Krebses erinnert. Ab geht’s ins Lager.

Normalerweise würde sich der 57-Jährige nach seinem Ausstieg bei der Bundeswehr um die letzten Handgriffe im Garten sorgen oder ein gutes Buch lesen. 35 Jahre hat der gebürtige Anhaltiner bei der Armee gedient, 150 Tage pro Jahr war er im Einsatz. Mit einem Gabelstapler befördert der gelernte Agrotechniker die Sommerreifen in die zweite Etage des Magazins. Immer sechs schwarze Rundlinge liegen übereinander und ungezählte Räder nebeneinander. 1 200 Sätze schätzt Dietmar Beier und schlängelt sich durch die Reifentürme zu seinen abgestellten vier Sommerreifen. Er sucht sich eine freie Stelle.

Die richtigen Reifen zum richtigen Auto

Jedes gut 15 Kilo schwere Exemplar bekommt einen rosa Zettel mit den nötigen Daten, wie zum Beispiel dem Autokennzeichen. Andere Jahrgänge sind mit anderen Farben gekennzeichnet. Die Standorte werden in einer Liste eingetragen. Schließlich sollen die Reifen am richtigen Auto rollen. Den richtigen Radsatz dagegen sucht derzeit Benjamin Trumpler. „Hast du die 631 gesehen vom Pizzalieferdienst“, fragt er seinen Kollegen. Dietmar Beier muss nicht lange überlegen. Gezielt läuft er auf einen Stapel gewuchteter und gewaschener Räder zu. Selbstverständlich liegt hier die 631.

Ein bisschen fernab des Trubels steht Stefan Funke. Er ist Mitarbeiter des Pannendienstes und an diesem Morgen „Maßschneider“. Vor ihm steht ein gigantischer Lkw-Reifen. Wahrscheinlich hat er schon viele Tausende Straßenkilometer gesehen. Die Laufrillen sind abgefahren. In den Händen hält der Vergölst-Mitarbeiter ein Gerät, das an eine Heißklebepistole erinnert. Statt der Düse für den Klebstoff gibt es bei diesem Apparat einen heißen Draht. Damit schneidet der langjährige Brummifahrer ein drei Millimeter neues Profil in die dicken Reifen. Der Abfall sieht aus wie leckere Lakritzestifte, allerdings riecht es nach verbranntem Gummi. Durch die gängige Reifen-Runderneuerung kann der Lkw noch mal zwischen 20 000 bis 25 000 Kilometer rollen.

Die Runderneuerung eines Autoreifens – wie in der DDR üblich – gehört dagegen schon längst der Vergangenheit. Ganz gegenwärtig ist den Kfz-Mechanikern dagegen ihr nächster Klient. Ein weiteres Fahrzeug des Pizzalieferdienstes muss fit für den Winter gemacht werden. Dieses Mal lässt es André Gewissen auf der Bühne links nach oben fahren. Der Nieskyer hat bei Vergölst in München gelernt, vor zwei Jahren kam er zurück in die Oberlausitz. Er schraubt die Sommerreifen ab. „In der Hoch-Zeit, da träumt man schon mal vom Reifenwechsel“, sagt er und legt die abgebauten Räder zur Seite. Bei Sunshine-Radio läuft „Feel good“ von Felix Jaehn. Irgendein Kollege pfeift mit. Durch das geöffnete Werkstatttor huscht der Wind. Jetzt steht auch wieder ein Auto auf der mittleren Scherenrampe. Noch gut vier Wochen heißt es hier: Reifenwechsel im Akkord.