Von Sebastian Beutler
Bis vor Kurzem ging die Rechnung der CDU im Landkreis Görlitz so: Wer für die Union bei einer Landtagswahl in den Wahlkreisen antrat, der gewann auch. Noch nie seit 1990 ging ein Direktmandat in der östlichen Oberlausitz an den Bewerber einer anderen Partei. Doch diese Gewissheit ist spätestens seit der Bundestagswahl dahin. „Wir haben die AfD im Rücken“, sagt Waldemar Locke am Wochenende in Löbau, wo die CDU ihre Direktkandidaten für die Landtagswahl 2019 bestimmt. Locke ist seit einem Jahr Bürgermeister der Gemeinde Trebendorf im Norden des Landkreises und einer von vier Bewerbern der CDU im Nord-Wahlkreis 57.
Die Kandidaten für Niesky, Görlitz, Löbau, Zittau
Dass die AfD bei der Bundestagswahl vor der CDU lag, das hat das Selbstverständnis der Union an der Neiße tief erschüttert. Mit 730 Mitgliedern, zahllosen Gemeinde-, Stadt- und Kreisräten, Landtagsabgeordneten, Bürgermeistern und dem Landrat ist die CDU noch immer die stärkste politische Kraft an der Neiße. Und doch macht sich Unsicherheit breit. Selbst Stephan Meyer, der in seinem Zittauer Wahlkreis 60 ziemlich unangefochten ist, sieht es keineswegs als ausgemacht an, dass er wieder gewählt wird. Trotzdem will er sich nicht über die Parteiliste absichern und dank der Zweitstimmen in den Landtag einziehen. Wie Kretschmer bei der Bundestagswahl will er entweder direkt gewählt werden oder gar nicht. „Das ist der schwerere, aber der glaubwürdigere Weg“, sagt Meyer. Einen Anti-AfD-Wahlkampf lehnt er aber wie alle ab. „Wir wollen für die Region streiten, nicht gegen etwas.“
Mehr Polizisten, zeitweilige Grenzkontrollen, ausreichend Lehrer und Ärzte auf dem Dorf, bessere Bus-Verbindungen von den Dörfern in die Städte, schnelles Internet in jedem Haushalt, schnellere Zugverbindungen nach Dresden und Berlin, bessere Straßen wie die neue B178 oder eine ausgebaute A 4, gute und preiswerte Kitas, fähiges Fachpersonal – in den politischen Themen sind sich die CDU-Mitglieder mit den Menschen im Kreis einig. Doch es bleibt verlorengegangenes Vertrauen, eine diffuse Negativstimmung, die auch der CDU entgegenschlägt. „Die Bürgernähe ist verloren gegangen“, sagt die 49-jährige Kati Struck. Sie ist nach der Bundestagswahl erst in die CDU eingetreten, steht jetzt an der Spitze der Partei in Schleife und hält auf dem Kreisparteitag ihre erste große Rede. „Wir müssen die Kritik der Bürger ernst nehmen, sie versuchen, zu verstehen und ihre Vorschläge aufnehmen“, sagt sie, die 1993 nach ein paar Jahren in Düsseldorf wieder nach Schleife zurückgekehrt ist, eine zweite Ausbildung zur Floristin abschloss, ihren Meister machte, 1995 in die Gärtnerei ihres Mannes eintrat, die sie seit 2017 leitet. Im Norden spielt der bevorstehende Kohleausstieg eine besonders große Rolle. Die Menschen hätten die Sorge, dass erneut wieder Tausende Arbeitsplätze wegfallen. „Seit 29 Jahren stehen die Menschen im Strukturwandel“, sagt Kati Struck. „Die Angst über einen weiteren steht ihnen buchstäblich ins Gesicht geschrieben.“ Deswegen sei nicht nur politische Erfahrung wichtig, sondern auch Menschlichkeit und eben Bürgernähe. Frau Struck gewinnt zwar nicht das Rennen im Norden, aber mit 25 Prozent der Stimmen auf Platz zwei hinter dem Gewinner Tilmann Havenstein fährt sie ein Achtungsergebnis ein und verspricht: „Ich werde mich weiter einbringen.“ Locke und der vierte Bewerber im Norden, Christoph Biele, schaffen es über Zählkandidaturen nicht hinaus. Die Bürgernähe ist allerdings auch den Kandidaten im Süden, die in der CDU keine Konkurrenz haben, wichtig.
Matthias Reuter aus Eibau nennt die Präsenz im Wahlkreis sogar als sein erstes Ziel und begründet das auch mit dem Eindruck, den der bisherige Abgeordnete Heinz Lehmann aus Neusalza-Spremberg hinterlassen habe, der Reuter zufolge zuletzt wenig Zeit für den Wahlkreis gehabt habe. Und Stephan Meyer hält Gespräche als das einzig probate Mittel, um den Menschen zu zeigen, dass „wir verstanden haben und ihre Probleme lösen wollen“. Zugleich aber könne die CDU auch auf Erfolge verweisen, der jetzt aufgestellte Doppelhaushalt enthalte vieles, was die Menschen forderten: Geld für mehr Lehrer, mehr Polizisten, mehr Schulsozialarbeiter. Bei aller Kritik, schlechtreden lasse man sich die Region auch nicht.
Ministerpräsident Michael Kretschmer sieht das ganz ähnlich. „Die Arbeit fängt jetzt erst an“, ruft er und ist an diesem Montag schon wieder im Kreis – beim Bürgergespräch in Trebendorf.