Merken

Pilgern einmal anders

Auf dem Jakobsweg durch die Großenhainer Pflege kann man sich auch der Naturerfahrung hingeben.

Teilen
Folgen
© Anne Hübschmann

Von Manfred Müller

Großenhain. Auch eine Reise von 1000 Meilen fängt mit dem ersten Schritt an ...“ Als die acht Leute auf den Stufen der Marienkirche zur Gitarrenbegleitung ihr Lied anstimmen, spitzen die Passanten verwundert ihre Ohren. Großenhain ist zwar nicht unmusikalisch, aber das Equipment der Sänger mutet doch etwas ungewöhnlich an. Neben der Gitarre haben sie Rucksäcke bei sich und Wanderschuhe an den Füßen. „Vertraue und gehe, vertraue und gehe ...“, singen die fidelen, aber schon etwas müden Großstädter.

Sie haben sich einem Ausflug der Natur- und Wildnisschule Leipzig angeschlossen. In Königsbrück gestartet, übernachteten sie auf Schloss Schönfeld und sind dann auf dem Jakobsweg bis nach Großenhain gewandert. Am Morgen geht es über Skassa weiter nach Glaubitz und dann mit dem Zug zurück nach Hause.

Das Wanderlied, das auf einem Sinnspruch des chinesischen Philosophen Laotse basiert, ist inzwischen verklungen. Sehnsüchtig schauen die ersten in Richtung Pilgerherberge, wo ein Bett und eine Kanne Tee auf die müden Wanderer warten. „Das Beste an der Herberge ist, dass ich hier auf einer Matratze schlafen kann“, sagt Matthias Meyer. „In meinem Alter verträgt man die Nächte auf der Isomatte nicht mehr so gut.“ Der 53-jährige Liedermacher ist für den musikalischen Teil der Pilgerreise zuständig. Wann immer die Gruppe eine Pause macht, setzen sich die Wanderer zusammen und lassen ihren Gefühlen singend freien Lauf.

Das ist das Schöne am Jakobsweg: Man kann beim Pilgern innere Einkehr und die Nähe zu Gott suchen. Man kann aber auch einfach die Lust ausleben, den ganzen Tag einen Fuß vor den anderen zu setzen und die Sache quasi sportlich nehmen. Oder man hat ein Auge für die umgebende Natur, freut sich am Gesang der Vögel oder beobachtet die Rehe, die hin und wieder den Pfad kreuzen. Letzterem hat sich die Leipziger Natur- und Wildnisschule verschrieben.

„Wir sind ja nicht nur Teil der Natur, wir sind selbst Natur“, erklärt Uwe Dittrich. „Dieses Gefühl wollen wir beim Pilgern wieder wecken.“ Drei Tage unterwegs mit Naturerfahrungen, Gesang, Schweigen, Gemeinschaft und vor allem Freude am Leben. Da wird schon mal Rast gemacht und jeder Wanderer zieht sich ein Stück in den Wald zurück, setzt sich an einen Baum und genießt das Alleinsein. Vielleicht findet er ja eine seltene Pflanze, einen Ameisenhügel oder einen kleinen Bachlauf.

Dann ruft er nach der Ruhepause seine Gefährten zusammen und lässt sie an seiner Entdeckung teilhaben. Unterwegs werden Achtsamkeits- und Wahrnehmungsübungen gemacht. „Gestern haben wir im Schönfelder Schlosspark einen Eisvogel beobachtet“, sagt Uwe Dittrich. „Das sieht man nicht jeden Tag, schon gar nicht in der Großstadt.“ Der Sozial- und Wildnispädagoge hat die Schule im Jahr 2012 gegründet und leitet auch die meisten Unternehmungen. Da wird schon mal eine Nacht im Freien geschlafen, eine Laubhütte gebaut, ein Seminar zum Feuermachen veranstaltet oder Kunst mit Naturmaterialien gemacht.

„Ich habe mich schon seit Monaten auf die Pilgerreise gefreut“, sagt Bernd Engelhard (59). „Hier kann jeder so sein, wie er eben ist.“ Engelhardt pilgert bereits zum vierten Mal mit. Er hat schon zwei Etappen im Saale-Unstrut-Gebiet und voriges Jahr den Jakobsweg zwischen Bautzen und Königsbrück absolviert. Die Entfernungen zwischen den Herbergen werden immer so gewählt, dass niemand unterwegs Probleme bekommt; sie liegen meist um die 15 Kilometer. Natürlich werde unterwegs auch viel Blödsinn gemacht, und meist sei die Truppe schon am ersten Abend auf einer Wellenlänge. Da massiere man sich schon mal gegenseitig die Schultern oder die Füße.

Trotz der müden Beine haben sich die Natur-Pilger noch die Zeit genommen, die Marienkirche zu besichtigen. „Die Architektur im Inneren ist schon etwas Besonderes“, sagt Heike Allerdt. „So etwas hätte ich hier gar nicht erwartet.“ Und auch von der Großenhainer Pilgerherberge ist die Leipzigerin angetan. Alles sei so liebevoll hergerichtet. Dann machen sich die Wanderer noch einmal auf den Weg, um fürs Abendbrot zu sorgen. Aber nicht in eine der nahegelegenen Gaststätten, sondern zum Supermarkt. Gegessen wird ganz spartanisch in der Herbergsküche.