Merken

Offener Brief: „Es geht um die Lebensversicherung von Görlitz“

Hans-Peter Bauer (76) ist zuletzt mit seinem vierten Roman zur Oberlausitzer Geschichte hervorgetreten. Er engagiert sich für die Sanierung der Stadthalle und nimmt regen Anteil an der Görlitzer Stadtentwicklung.

Teilen
Folgen
© Archiv

Sehr geehrter Herr Kaeser,

Görlitz hatte nach 1990 bereits eine Welle der Deindustrialisierung hinter sich, große Arbeitgeber wie das Kondensatorenwerk und die Feinoptischen Werke gingen pleite, kurz darauf machten auch das Braunkohlenkraftwerk und der Tagebau im benachbarten Hagenwerder dicht. Zehntausende Menschen wurden arbeitslos, mehr als 30 000 Menschen der damals knapp 80 000 Einwohner verließen die Stadt. Nur der Waggonbau und das Turbinenwerk blieben in nennenswerter Größe erhalten, freilich mit deutlich verringerter Mitarbeiterzahl.

In Görlitz geht es um 950 Arbeitsplätze. Das mag im Vergleich zu den erheblich größeren westdeutschen Standorten wenig klingen, aber es ist das größte Siemens-Werk im Osten und zugleich so etwas wie eine Lebensversicherung für Görlitz. Die Dimension ihrer Entscheidung verdeutlicht eine simple Rechnung der IG Metall: Sollte das Werk schließen, stiege die Arbeitslosenquote in der Stadt von zwölf auf 24 Prozent. Die Auswirkung der Schließung des Standortes Görlitz auf die Zulieferer ist auch noch nicht absehbar. Können Sie das mit Ihrem sozialen Gewissen vereinbaren Herr Kaeser? Anscheinend nicht! Schließlich haben Sie ja eine Frontfrau, die das alles managt. Personalchefin Janina Kugel, 47, Mutter von zwei Kindern, seit 16 Jahren Siemensianerin und seit zweieinhalb Jahren im Vorstand. Sie ist Ihre Frau fürs Grobe. Weiche Themen? Von wegen. Kugel ist keine Vorzeigefrau, sie ist Ihre Frau an der Front. Scheitert sie, scheitern auch Sie Herr Kaeser. Aber sie wird das schon mit aller Härte durchziehen, davon bin ich überzeugt.

Aber zurück zum Thema: Das Turbinenwerk Görlitz ist die Zentrale des Dampfturbinengeschäfts der Siemens AG. Mehr als 20 000 weltweit installierte Dampfturbinen zeugen von der Qualität des Dampfturbinenbaus, davon ist ein großer Teil aus Görlitz. Das Görlitzer Werk ist einer der traditionsreichsten Dampfturbinenstandorte von Siemens, denn hier werden bereits seit 1906 Industriedampfturbinen hergestellt. Als Siemens das Werk 1990 übernahm, verfügten die Görlitzer Turbinenbauer bereits über 84 Jahre Erfahrungen im Dampfturbinenbau, ein gewachsenes Know-how, das Siemens sich zunutze machte. Jede Turbine, die das Görlitzer Werk verlässt, erfüllt genau die Anforderungen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Kunden definiert wurden. Eine Dampfturbine ist ein komplexes Produkt, das aus zahlreichen Komponenten besteht. Ein Netzwerk von über 200 Zulieferern, allein aus der Region Ostsachsen, unterstützt die Produktion. Damit ist das Görlitzer Turbinenwerk auch ein Motor für die gesamte Region Sachsen geworden.

Siemens bietet ein umfassendes Dampfturbinen-Produktportfolio im Leistungsbereich von 45 kW bis 1 900 MW sowie entsprechende Dampfturbosätze. Aber die Industriedampfturbinen aus Görlitz gelten als Maßstab für Zuverlässigkeit und optimale Wirkungsgrade. Diese Turbinen beziehungsweise Turbosätze werden als Generatorantrieb für die Stromerzeugung oder als mechanische Antriebe für Verdichter, Gebläse und Pumpen eingesetzt. Sie spielen eine wichtige Rolle bei vielen industriellen Anwendungen, wie zum Beispiel in der Öl- und Gasindustrie, Papier-, Zellstoff-, Lebensmittel- und Metallindustrie.

Auch in chemischen und petrochemischen Produktionsanlagen sowie bei erneuerbaren Energien werden Industriedampfturbinen eingesetzt. Ob Energieerzeugungsanlage, Kraft-Wärme-Kopplung oder Fernwärme, Biomassekraftwerk, Müllverbrennungs-, Meerwasserentsalzungsanlage oder Solarthermie: Es gibt viele Anwendungsbereiche für Industriedampfturbinen aus Görlitz. Und die Görlitzer Turbinenbauer sind darauf eingestellt und die Auftragslage ist gut.

Ziehen Sie das Programm in aller Härte durch, Herr Kaeser, dann wird die Feststellung des „SPIEGEL“ wahr. Görlitz wird dann tatsächlich eine „angemalte Todeskiste“ mit Auswirkungen auf die schon arg gebeutelte Region. Ich weiß nicht, ob dieser Brief bis zu Ihnen durchgedrungen wäre, deshalb mache ich ihn öffentlich!

Mit freundlichen Grüßen aus Görlitz

Ihr Hans-Peter Bauer