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Nur nicht das Lachen verlieren

Im März starb Heinrich Webers Frau. Danach stürzte der 90-Jährige schwer. Doch sein Lebensmut ist unerschütterlich.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Er gehört hier nicht hin. Heinrich Weber vermisst seinen Balkon und die Blumen. Hier ist alles so eng und fremd, auch wenn die Leute freundlich zu ihm sind. Noch Ende April schrieb der 90-Jährige einen langen Brief an die Sächsische Zeitung, in dem er von seinen Stiefmütterchen, Geranien und Primeln schwärmte, die der in die Balkonkästen gepflanzt hatte, um seiner Ursel eine Freude zu bereiten.

Die Natur (links mit Sohn Harald) und die Ferne haben es Heinrich Weber und seiner Familie stets angetan. Zum 60. Hochzeitstag ging er mit seiner Ursel auf Kreuzfahrt.
Die Natur (links mit Sohn Harald) und die Ferne haben es Heinrich Weber und seiner Familie stets angetan. Zum 60. Hochzeitstag ging er mit seiner Ursel auf Kreuzfahrt. © Sven Ellger
Die Natur (links mit Sohn Harald) und die Ferne haben es Heinrich Weber und seiner Familie stets angetan. Zum 60. Hochzeitstag ging er mit seiner Ursel auf Kreuzfahrt.
Die Natur (links mit Sohn Harald) und die Ferne haben es Heinrich Weber und seiner Familie stets angetan. Zum 60. Hochzeitstag ging er mit seiner Ursel auf Kreuzfahrt. © Sven Ellger

Seinen Zeilen gab er den Titel „Allein zu Haus“, denn seine Ursel lebt nicht mehr. Am 23. März ist sie friedlich eingeschlafen. Sie litt an unheilbarer Lungenfibrose, bekam immer schlechter Luft. Monatelang pflegte ihr Mann sie am Krankenbett. Dann wurde es still um ihn.

Gerade, als er beginnen wollte, sich von körperlichen und seelischen Strapazen zu erholen und sich auf sein neues Leben einzustellen, riss ihm das Schicksal erneut den Boden unter den Füßen weg. Diesmal wortwörtlich. Heinrich Weber rutschte in der Straßenbahn von der Haltestange ab und stürzte schwer. Die Diagnose: Hand gebrochen und Haarriss im Beckenknochen. „Meine künstlichen Hüftgelenke haben 18 Jahre lang gehalten, da war ich sehr stolz drauf“, sagt er. „Jetzt weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.“ Gedankenverloren sackt Heinrich Weber noch ein Stück weiter in seinem Rollstuhl zusammen. Wenn er spricht, schließt er die Augen und sammelt lange die Gedanken zusammen.

Seit seinem Sturz lebt er in einem Pflegeheim in Dresden-Plauen – vorübergehend wohlgemerkt und nur so lange, bis er sich wieder allein durch den Alltag bewegen kann. Dann ist erst einmal Reha angesagt und später will er zurück in seine Drei-Raum-Wohnung in Prohlis, 9. Etage, wo er seit 1973 wohnt. Das ist der Plan. Heinrich Weber hat noch eine Menge vor in den kommenden Jahren. Vor allem will er Dresden kennenlernen, was sich ein wenig kurios anhört, aus dem Munde eines Mannes, der 1928 hier geboren wurde und nie weggezogen ist. Als Kind stapelte er in der Johannstadt mit Vorliebe zusammen mit Freunden Kohlebriketts zu Mauern auf. Später erlebte er die Bomben und den Wiederaufbau. Viel herumgekommen in der großen Stadt ist er allerdings nie, auch nicht mit Ursel. „Früher waren wir doch jung und voller Elan“, klärt er auf. „Da haben wir vom Balaton und Moskau geträumt und uns gesagt: Dresden machen wir später, wenn wir nicht mehr reisen können.“

Allein auf Entdeckungsreise

Nun musste er sich zuletzt alleine auf Entdeckungstour durch Dresden begeben. Mit der Straßenbahn fuhr er über die Albertbrücke, lief hinunter zum Rosengarten, setzte sich auf seinen Rollator und holte aus seinem Beutel die Thermoskanne mit dem Kaffee und ein Stück Kuchen. „Ein schöner Tag“, erinnert er sich. „In vielen Ecken bin ich wirklich noch nie gewesen.“ Auch hier in Plauen kennt er sich gar nicht aus, aber an Ausflüge ist vorerst sowieso nicht zu denken. „Dabei war ich immer so fit“, sagt Weber. Jeden Morgen vor dem Aufstehen hätten er und seine Frau Gymnastik im Bett gemacht. „Linker Arm raus, zurück, rechter Arm raus, zurück, beide Arme hoch.“ Das macht wach.

Wenn er von seiner Frau erzählt, macht er besonders lange Pausen. Nach jedem Satz muss er innehalten, seine Augen werden feucht. „Sie war eine wunderbare Frau“, sagt er. „Ich habe ihr immer gesagt: Ich brauche keine Geliebte, du bist meine Geliebte. Eifersüchteleien oder solchen Mist gab es bei uns nie.“ Er erinnert sich noch genau an den Tag, als er 1951 in ein Büro spazierte, ein Werkzeugmacher und Ingenieur auf Arbeitssuche, und er am Schreibtisch diese junge Dame sitzen sah. „Eine Rothaarige ist nichts für mich“, habe er sofort gedacht. Er täuschte sich.

66 Jahre waren Ursel und Heinrich glücklich verheiratet. Sie teilten die Lust an der Natur, kauften sich ein Gartengrundstück in Langebrück und übernahmen sogar mit weit über 70 noch einmal einen Kleingarten in Prohlis. Vor allem aber teilten sie die Begeisterung fürs Reisen.

Zu DDR-Zeiten ging es anfangs jedes Jahr gen Osten zum Campen. Man glaubt es kaum, aber mit ein bisschen Finesse ist auch im Trabi genug Platz für zwei Luftmatratzen. „Auf dem Rückweg aus der Slowakei wollte es mal ein Grenzer ganz genau wissen“, erinnert sich Weber. „Dem habe ich dann erklärt, wie wir die Rücksitze ausgebaut haben und zwei große Koffer hinter die Vordersitze stellten, um eine Ebene zu kriegen.“ Später sei das Paar dann um einiges luxuriöser mit Wartburg und Klappfix unterwegs gewesen.

„Sagenhafte Zeiten erlebt“

Von jedem Urlaub fertigten die beiden auf ihrer Kolibri-Schreibmaschine einen ausführlichen Reisebericht an. Zehn dicke Ordner füllen die liebevollen Dokumentationen heute. Nach der Wende reisten sie besonders gern nach Italien, nun allerdings lieber im Bus. Noch zum 60. Hochzeitstag gingen sie gemeinsam mit ihrem einzigen Sohn Harald auf große Schiffsreise durchs Mittelmeer. Danach jedes Jahr zur Kur nach Altenberg.

Wieder macht Harald Weber eine lange Pause und schließt die Augen. „Wir haben sagenhafte Zeiten erlebt“, sagt er dann. Nach Ursels Tod Ende März blieb ihm – leider und zum Glück – keine Zeit, um innezuhalten. Das Leben trieb ihn weiter. Unzählige Briefe mussten geschrieben und Formulare ausgefüllt werden. „Was da alles dranhängt“, sagt er dann. „Sterben ist gar nicht so einfach.“ Deswegen will Heinrich Weber auch viel lieber noch „ein paar Jahre Spaß“ haben. Er muss ja noch sein Dresden kennenlernen.

In der Serie „Ein Leben voller Leben“ stellt die Sächsische Zeitung ältere Menschen vor, die viel zu erzählen haben. Kennen Sie jemanden, der auch in diese Reihe passen könnte? Rufen Sie an unter Telefon 48642210 oder schreiben Sie an [email protected]