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Niesky – Sprungbrett für Chinesen

Der weltgrößte Bahnbauer CRRC will den deutschen Markt erobern. Da kommt eine Offerte aus der Lausitz gerade recht.

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© Peter Trebitsch/dpa

Von Tilo Berger

Niesky. Punkt zwölf Uhr in Peking: In der chinesischen Hauptstadt setzt sich der Schnellzug mit der Nummer G 9 in Bewegung. Sein Ziel: die Hafenstadt Shanghai am Pazifischen Ozean. 12.05 Uhr in Berlin: Der Intercity-Express Nummer 1005 nach München startet. Der ICE-Sprinter erreicht die bayerische Landeshauptstadt nach vier Stunden und zwei Minuten Fahrt. Der G 9 ist bis Shanghai genau vier Stunden und 36 Minuten unterwegs. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Hochgeschwindigkeitszügen: Der G9 muss 1200 Kilometer zurücklegen, der ICE 1005 aber nur die Hälfte.

Fuxing nennen die Chinesen ihren schnellsten Zug der Welt, auf deutsch heißt das so viel wie Wiedergeburt oder Erwachen. In der Tat ist mit dem Hersteller CRRC ein Gigant erwacht. Der staatseigene Konzern namens China Railway Rolling Stock Corporation beschäftigt mehr als 160000 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von über 30 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der entthronte Weltmarktführer Bombardier Transportation kommt mit insgesamt rund 40000 Beschäftigten – unter anderem in Bautzen und Görlitz – auf knapp acht Milliarden Euro.

Es ist kein Zufall, dass CRRC heute den Weltmarkt im Schienenfahrzeugbau anführt und sein Flaggschiff, der bis zu 400 Kilometer pro Stunde schnelle Fuxing, auffallend einem ICE ähnelt. Im Jahr 2004 beschloss die Pekinger Regierung den Bau eines Schienennetzes für Hochgeschwindigkeitszüge. Solche Züge kannten die Chinesen aus Europa, hatten selbst aber noch keine gebaut. Also vergaben sie lukrative Großaufträge an Hersteller wie Bombardier, Siemens oder Alstom – unter zwei Bedingungen: Die Züge sollten in China gebaut werden, und zwar zusammen mit einheimischen Partnern. Um einen riesigen Absatzmarkt zu bedienen, teilten die Europäer ihr Wissen über den Zugbau. Und die Asiaten lernten schnell.

Nur 14 Jahre nach dem historischen Beschluss ist China heute dreifacher Weltrekordhalter: Das asiatische Land verfügt über das beste Hochgeschwindigkeitsnetz mit mehr als 20000 Kilometern, hat die schnellsten Züge und den größten Bahntechnikhersteller. Doch das Tempo, mit dem sich die chinesische Bahnindustrie über ein Jahrzehnt lang an die Spitze katapultierte, hat in jüngster Zeit nachgelassen. Inzwischen brummt die Wirtschaft in China längst nicht mehr so auf Hochtouren wie noch für fünf Jahren. Auch Waggonbauwerke seien nicht voll ausgelastet, beobachtete Maria Leenen.

Sie führt die Geschäfte der in Hamburg ansässigen Unternehmensberatung SCI Verkehr GmbH, die sich auf die weltweite Bahn- und Logistikbranche spezialisiert hat. Weil die Absätze im eigenen Land stagnieren, sucht auch CRRC nach neuen Märkten außerhalb Chinas. Der Staatskonzern sicherte sich bereits Aufträge aus Indien und afrikanischen Ländern. 2016 ergatterte CRRC den ersten Auftrag in der Europäischen Union: Der tschechische Verkehrsanbieter Leo-Express, der 14 Zuglinien betreibt, bestellte bei den Chinesen drei elektrische Triebzüge. Sie sollen in diesem Jahr ausgeliefert werden.

Seit wenigen Wochen hat CRRC nun auch noch keinen ganzen Fuß, aber immerhin den kleinen Zeh auf dem deutschen Markt. Die Deutsche Bahn AG orderte im Juni vier Rangierlokomotiven mit einem kombinierten Elektro-Diesel-Motor. Ein Rahmenvertrag mit den Chinesen sieht die Lieferung von bis zu 20 dieser Hybrid-Lokomotiven vor. Bahnsprecher Hartmut Sommer erklärt, wie es zu dem Deal kam: „Auf die Ausschreibung hatte sich außer CRRC kein anderer Hersteller gemeldet. Hierzu gab kein europäischer Hersteller – trotz DB-Aufforderung – ein entsprechendes Angebot ab.“

Aus dem kleinen Zeh könnte der ganze Fuß werden, wenn der Pekinger Konzern den Zuschlag für die Waggonbau Niesky GmbH bekommt. Für das insolvente Güterwagenwerk sind noch zwei ernsthafte Bewerber im Rennen: Tatravagonka aus dem slowakischen Poprad – und CRRC. Bis Ende September will Insolvenzverwalter Jürgen Wallner eine Entscheidung treffen.

Die Slowaken haben angekündigt, für den Fall der Übernahme an den Gehältern in Niesky sparen zu wollen. Ein Ansinnen, das auf energischen Widerstand der Industriegewerkschaft Metall trifft. Die Chinesen hingegen würden alle Tarifverträge übernehmen. Branchenbeobachter werten das als Beweis, dass die Chinesen „um jeden Preis“ nach Deutschland wollen.

„CRRC wird in Deutschland einsteigen, das ist klar“, sagt Unternehmensberaterin Maria Leenen. Sie kann sich vorstellen, dass dieser Einstieg über ein kleineres Werk vor sich geht – da käme Niesky mit seinen gut 300 Stellen wie gerufen. Güterwaggons seien gegenüber Lokomotiven oder Personenzügen ein vergleichsweise einfaches Produkt. „Aber dabei würde CRRC nicht stehen bleiben“, ist die Hamburgerin überzeugt.

Der nächste Schritt wäre möglicherweise nur rund 20 Kilometer von Niesky entfernt. Im Bombardier-Werk Görlitz werden demnächst Flächen und Hallen frei. Der Betrieb baut keine kompletten Wagen mehr, sondern spezialisiert sich auf die Fertigung von Wagenkästen. Das „führt zu geringeren Flächenanforderungen“, erklärt Konzernsprecher Andreas Dienemann auf Anfrage der SZ. „Bombardier hat entsprechend Gesprächs- und Kooperationsbereitschaft mit externen Partnern signalisiert. Es geht darum, ergebnisoffen Zukunftskonzepte für die frei werdenden Flächen und Gebäude zu prüfen.“

Nach Recherchen der SZ braucht Bombardier vom bisher 60 Hektar großen Werksgelände in Görlitz nur noch gut die Hälfte. Auf dem restlichen Areal liegen alle Voraussetzungen an, um hier wieder komplette Züge zu bauen.

Vielleicht durch CRRC? Eine entsprechende Anfrage der SZ nach Peking wurde bisher nicht beantwortet. Also auch nicht abschlägig beschieden.