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„Niemals von vorne streicheln!“

Wenn in Görzig Jungstörche beringt werden, hat das ganze Dorf an der Prozedur Anteil.

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© Anne Hübschmann

Von Manfred Müller

Görzig. Eigentlich sind Weißstörche gar nicht so treu, wie ihnen immer nachgesagt wird. Die Männchen kehren in der Regel etwas früher aus ihren Überwinterungsgebieten in Afrika oder Südeuropa zurück und besetzen ein Nest. Etwas später folgen die Weibchen, und es kann durchaus passieren, dass sie einen Partner oder Niststandort auswählen, der ihnen attraktiver erscheint als der vom vergangenen Jahr. Beim Görziger Storchenpaar ist das anders. Die beiden brüten schon seit 2013 zusammen auf dem Kunsthorst im Garten von Matthias Marth. „Dieses Jahr hatte sich zuerst ein anderes Weibchen eingefunden“, erzählt der Storchenfreund aus dem kleinen Dorf westlich von Zabeltitz. Aber dann sei die angestammte Partnerin aufgetaucht und habe die Neue vertrieben. Da die Görziger Adebare einen nummerierten Ring am Fuß tragen, kann Marth durchs Fernglas genau erkennen, ob es wirklich „seine“ Störche sind, die oben auf dem Nest stehen. Und auch die Jungstörche, die dort aufwachsen, werden jedes Jahr beringt.

Am vergangenen Sonnabend war es wieder so weit. Ornithologe Peter Reuße kletterte am Mast empor und packte die beiden Storchenkinder in eine Plastiktasche, um sie dann am Boden zu vermessen, zu wiegen und dann mit einer speziellen Zange den Ring am Bein zu befestigen. Das ist eine Prozedur, an der das ganze Dorf Anteil nimmt. Auch diesmal waren wieder etwa 50 Leute gekommen, um die Jungstörche einmal ganz nah vor sich zu haben. Vor allem natürlich Kinder, die mit angehaltenem Atem um die Decke hockten, auf der die Beringungsprozedur stattfand. Aber auch viele Eltern waren mitgekommen – und sogar Väter, die freiwillig darauf verzichteten, sich das Spiel der deutschen WM-Gruppengegner Mexiko und Südkorea anzusehen. Bei den Jüngsten war Fußball ohnehin kein Thema. Die meisten kamen nicht zum ersten Mal zur Storchenberingung, und einige kommentierten das Geschehen geradezu fachgerecht. „Niemals von vorne streicheln!“ warnte Matthias Marth die allzu Eifrigen. Obwohl noch jung, verfügt der Storchennachwuchs schon über einen kräftigen Schnabel, mit dem er schmerzhafte Hiebe austeilen kann. Dennoch ließ kaum ein Kind die Gelegenheit aus, den auf die Decke geduckten Vögeln übers Gefieder zu streichen. Und auch viele Mütter konnten den zärtlichen Impuls nicht unterdrücken.

Knapp drei Kilogramm bringt jeder der beiden Jungstörche auf die Waage. „Das liegt im Durchschnitt“, erklärt Peter Reuße. Die beiden hätten gute Chancen, den Vogelzug in den Süden anzutreten. Ursprünglich lagen allerdings fünf Eier im Görziger Nest. Zwei sind wohl bei Kämpfen mit marodierenden Storchen-Jugendbanden kaputtgegangen. Aus dem Dritten ist ein Küken geschlüpft, das aber nicht so gut gedieh, und irgendwann von den Eltern aus dem Nest geworfen wurde. „Das liegt am sinkenden Nahrungsangebot“, sagt Peter Reuße. Störche ziehen nur so viel Nachwuchs auf, wie sie auch ernähren können. Der Tausende Kilometer lange Weg in die Überwinterungsgebiete erfordert eine unglaubliche Energie, und ein schwächliches Storchenkind hätte da kaum eine Überlebenschance.

Die Röderauen um Zabeltitz gehören zwar noch zu den storchenreichsten Regionen Deutschlands, aber die Ornithologen beobachten mit Sorge, dass die Zahl der ausfliegenden Jungstörche langfristig gesehen abnimmt. Waren noch in den 1990er Jahren Dreier- und Viererbruten die Norm, so überleben in jüngster Zeit meist nur noch zwei Küken. Das liege vor allem an den intensiven Nutzung der Landwirtschaftsflächen, ist sich Reuße sicher. Sie führe dazu, dass die Zahl der Insekten, Mäuse und Lurche abnimmt, die die Hauptnahrung der Weißstörche bilden. Da hilft es auch wenig, dass die Naturschützer der Region viele Kunsthorste aufgebaut haben, von denen die meisten auch besetzt sind. Peter Reuße hat inzwischen seine Messergebnisse und akribisch in ein Notizbuch eingetragen, um sie später an die zuständige Vogelwarte weiterzugeben. Dann packt er die beiden Jungstörche vorsichtig zurück in die Tragetasche und bringt sie zum Nest zurück. Die Storchenmutter hat die Szenerie die ganze Zeit besorgt von einem Scheunengiebel aus verfolgt und aufgeregt geklappert. Aber eigentlich kennt sie die Prozedur ja schon seit einigen Jahren. Während sich im Marthschen Garten die Zaungäste zerstreuen, gleitet sie zurück auf den Horst und begutachtet den neuen Schmuck, den ihre Kinder jetzt am rechten Bein tragen.