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Neuanfang ohne Zwillingsschwester

Auf der Marathonstrecke hat sich einiges verändert, und auch Weihnachten erleben die Hahners getrennt.

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© action press

Von Tino Meyer

Erst kommt der Regen, dann meldet sich der Magen. Für Läufer ist das eine unheilvolle Verbindung, besonders beim Marathon – und erst recht, wenn gerade mal die Hälfte der Strecke geschafft ist. Anna Hahner hört in sich hinein, überlegt und kann nicht anders. Der Abstecher in die Büsche muss sein.

Wieviel Zeit sie durch die unfreiwillige Pause verliert? Vielleicht 15, 20 Sekunden. Die 28-Jährige kann es sich leisten, sie liegt deutlich im Plan. Die Beine sind diesmal also offenbar nicht das Problem. Die Frage ist vielmehr, ob der Magen sich damit beruhigen lässt – und vor allem der Kopf danach weiter mitspielt.

Im Nachhinein kann Anna Hahner darüber lachen, natürlich. Eigentlich lacht sie ja immer. Und doch ist dieser 24. September in Berlin nicht nur für Politiker ein entscheidender Tag. Gewählt wird ein neuer Bundestag, und auf den Straßen der Hauptstadt quasi über Hahners Zukunft als Läuferin abgestimmt. Beim Berlin-Marathon muss sie beweisen, was sie drauf hat – nach fast einem Jahr Verletzungspause und dem ganzen Trubel, der sie und ihre Zwillingsschwester Lisa nach den Olympischen Spielen erfasste.

Sogar die renommierte New York Times berichtete anschließend über die German Hahnertwins aus dem Schwarzwald. Ein unvergessliches Ereignis – nur wollen beide nicht allein darauf reduziert werden. Doch um die Bedeutung dieses verregneten Berlin-Marathons zu verstehen, muss der Blick zurück in den heißen August in Rio 2016 unbedingt sein.

Hand in Hand sind die Schwestern dort über die Ziellinie gelaufen – natürlich mit einem Lächeln im Gesicht, allerdings auf den Plätzen 81 und 82. Und auch die Zeit liegt weit hinter den Erwartungen zurück. 2:45 Stunden rennen sie sonst locker im Training – nicht aber mit nicht mit einem Sehnenanriss im rechten Oberschenkelansatz im Sitzhöckerbereich. So lautet die Diagnose danach für Anna Hahner, und die Konsequenzen daraus sind erheblich: nicht nur ein absolutes Laufverbot, sondern auch Schwimm-, Aquajogging-, Radfahrverbot, und zwar auf unabsehbare Zeit.

Für die einen mag das nach einem entspannten Tag klingen: viel Ruhe, wenig Bewegung. Für leidenschaftliche Athleten ist das der Super-Gau – oder die Chance, sich noch einmal ganz neu aufzubauen, Gedanken zu ordnen, Balance zu finden und idealerweise noch stärker zurückzukommen.

Anna Hahner entscheidet sich für Variante zwei, klar. Sie ist und bleibt im Kopf immer positiv. Nur das Lächeln im Gesicht ist ab sofort nicht mehr ständiger Begleiter.

„Will ich überhaupt laufen? Und wenn ja, warum und wie?“ Die Fragen beschäftigen sie monatelang. Doch die Antworten sind nicht immer so simpel wie dieses uneingeschränkte „Ja, ich will unbedingt laufen.“ Die Rückkehr in den geliebten sportlichen Alltag zieht sich länger hin als erwartet, viereinhalb Monate dauert es.

Erst im Januar 2017 macht Anna Hahner die ersten ernsthaften Schritte, beim internationalen Citylauf im März in Dresden ihren ersten Wettkampf. Und doch ist nichts wie zuvor. „Es war eher zum Davonlaufen, ein echter Schlingerkurs“, sagt sie über das erste Halbjahr 2017 und meint, vielleicht zu ungeduldig mit sich und ihrem Comeback zu sein. Immer wieder meldet sich der Körper. Zielgerichtetes Lauftraining ist kaum möglich. Zwei Schritte vor, drei zurück – doch ihr Optimismus ist in dieser auch mental schwierigen Phase die treibende Kraft, wie sie erzählt: „Der Gedanke an den Berlin-Marathon hat mich voll motiviert. Auch wenn die Zeit gegen mich lief, habe ich diesen positiven Grundgedanken beibehalten.“ Und tatsächlich, ab Juli läuft plötzlich alles nahezu perfekt.

Mit ganz viel Freude, sagt Anna Hahner, habe sie deshalb an der Startlinie gestanden, vor allem aber gesund und fit – und unter Beobachtung. Auf ihren Neuanfang, den ersten Marathon nach Olympia hat nicht nur sie gewartet. „Ich wusste, was ich drauf habe. Und die großen Erwartungen von außen habe ich versucht auszublenden“, sagt Anna Hahner, was sich bestenfalls leicht sagen lässt, zumal ihre Schwester Lisa eine Woche zuvor beim Kapstadt-Marathon entkräftet aussteigen musste.

Wieder zurück auf der Straße

Doch den Druck, von dem alle sprechen, schiebt sie erfolgreich von sich – bis sich der Magen meldet und sie hinter die Büsche verschwindet. Im Läuferleben vor Olympia hätte sie das vielleicht aus dem Rhythmus gebracht, jetzt reagiert sie souverän. „Ich konnte durch den Stopp keine Zeit verlieren, weil ich doch gar keine feste Zeit im Kopf hatte. Ich wollte einfach nur wieder laufen“, erzählt sie und erreicht als Fünfte und beste Europäerin das Ziel in 2:28:32 Stunden.

„Bähm!“ Hätte Anna Hahner in den Jahren zuvor vermutlich gesagt. Diesmal lässt sie eine halbstündige Videodokumentation sprechen mit dem Titel „Back on the road again“, zurück auf der Straße, die sie also von Olympia bis Berlin geführt hat. Ein langer, ein harter, anstrengender Weg, der sie verändert hat.

Anna Hahner wirkt jetzt reifer, ernsthafter – und widerspricht sofort: „Ernsthafter? Hmmm. Ich bin genauso fröhlich und voller Freude wie sonst“, meint sie, überlegt und stellt doch Unterschiede fest. Sie mache die Dinge inzwischen bewusster, manchmal auch bedachter als zuvor.

Sie weiß: „Ich habe meinen Weg gefunden.“ Und der hat sie vor drei Wochen nach Neuseeland geführt. In Auckland bereitet sich Anna Hahner auf die neue Saison mit dem Höhepunkt EM in Berlin vor, während ihre Schwester zu Hause im Schwarzwald geblieben ist. „Weihnachten und Silvester ohne Lisa – das ist schon komisch. Doch unsere Zwillingsverbindung ist immer da, ich bin ja nicht aus der Welt, sondern nur am anderen Ende.“