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Neonazi-Gruppen in der sächsischen Heimat

Seit mehr als 20 Jahren fliegen im Freistaat immer wieder rechtsextreme kriminelle Vereinigungen auf.

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Von Ulrich Wolf, Thomas Schade und Alexander Schneider

Es ist Ende September 2000, als sich der damals neue SZ-Politikchef, Dieter Schütz, auf den Weg macht zur Staatskanzlei. Er ist verabredet zu seinem ersten Interview mit Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Kurz zuvor hatte Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe für Aufsehen gesorgt mit der Aussage, Ostdeutschland sei anfälliger für Rechtsextremismus als Westdeutschland. Schütz erinnert sich: „Die Atmosphäre war gereizt, Biedenkopf steigerte sich hinein.“ Dann fiel der legendäre Satz: „Und die sächsische Bevölkerung hat sich als völlig immun erwiesen gegenüber den rechtsradikalen Versuchungen.“

18 Jahre später klingt das anders. Für den amtierenden Ministerpräsidenten Michael Kretschmer ist Rechtsextremismus „die größte Gefahr für unsere Demokratie“. Und der neue Fraktionschef Christian Hartmann sagt der Leipziger Volkszeitung, in Sachsen habe sich der Rechtsextremismus „in der Fläche ausgebreitet“. In der Tat entstanden in keinem anderen Bundesland seit der Wende so viele kriminelle, teils sogar terroristische, neonazistisch geprägte Vereinigungen.

Skinheads Sächsische Schweiz (SSS)

Die 1996 gegründete SSS wollte das Elbsandsteingebirge zur „national befreiten Zone“ machen. Zeitweilig gehörten mehr als 200 Personen zur Gruppe, die hierarchisch strukturiert war. Man überfiel Andersdenkende, übte den Wehrsport und übernahm Ordnerdienste bei NPD-Veranstaltungen. Bei einer Razzia im Jahr 2000 fand die Polizei Sprengstoff und Waffen. Im April 2001 wurde die Gruppe verboten. 2003 begannen Prozesse gegen rund 40 SSS-Mitglieder. Sie endeten meist mit Jugend- und Bewährungsstrafen. Der Rädelsführer musste 2006 erneut vor Gericht, weil er die SSS fortgeführt hatte; er ging für acht Monate ins Gefängnis.

Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)

Der NSU, der zehn Menschen ermordete, ist die bekannteste rechtsterroristische Vereinigung. Die Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe tauchten Anfang 1998 in Sachsen unter: erst in Chemnitz, dann in Zwickau. Dort blieben sie bis zum November 2011 unentdeckt. Das Trio hatte Unterstützer in Südwestsachsen. Einer von ihnen war André Eminger aus Johanngeorgenstadt; er wurde im Juli 2018 zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Zschäpe muss lebenslang ins Gefängnis, Böhnhardt und Mundlos hatten sich erschossen.

Nationale Sozialisten Döbeln (NSD)

2005 erstmals als „Division Döbeln“ in Erscheinung getreten, wurde 2009 bekannt, dass die Gruppe vermehrt Personen und Objekte in und um Döbeln attackierte. Treffpunkt war ein Gewerbegebiet, in dem auch Rechtsrock-Konzerte organisiert wurden. Im September 2013 durchsuchte die Polizei die Wohnungen der sechs wichtigsten Mitglieder und ihr Vereinslokal. Die Gruppe wurde verboten, klagte dagegen, scheiterte aber 2015 vor dem sächsischen Oberverwaltungsgericht.

Sturm 34

Es gab schon ab 2005 eine Häufung von Übergriffen, im März 2006 gründete sich Sturm 34 nachweisbar. 30 Männer und Frauen gehörten zum näheren Umfeld. Sie wollten den Muldentalkreis von „linken Zecken“ und Ausländern befreien. Es gab Dutzende Körperverletzungen, Bedrohungen, Landfriedensbrüche, Sachbeschädigungen. Das Verbot erfolgte 2007.

Hooligans Elbflorenz (HE)

Im Gründungsjahr 2007 war die Gruppe regional als „Ackerbande“ oder „Boxclub Dynamo“ bekannt. Das änderte sich nach dem Europameisterschaftsspiel 2008 zwischen Deutschland und der Türkei. Der HE-Anführer billigte Überfälle auf türkische Geschäfte in Dresden, an dem auch der „Jungsturm“ beteiligt war, eine HE-nahe Gruppe jüngerer Schläger. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft erstmals ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen eine Hooligan-Gruppe ein. Eine Razzia im Dezember 2009 beendete das Treiben der Gruppe. Das Landgericht Dresden verhandelte ab 2011 gegen fünf Beschuldigte und verurteilte sie als kriminelle Vereinigung. Der Bundesgerichtshof bestätigte 2015 das Urteil, seitdem ist die Verabredung zu Hooligan-Kämpfen strafbar. Der Anführer erhielt drei Jahre und acht Monate Haft.

Terror Crew Muldental (TCM)

Die rund 30 Neonazis aus dem Raum Wurzen trugen bereits 2008 den Schriftzug Terror Crew Muldental auf ihrer Kleidung. Sie überfielen Fans und Spieler des Fußballklubs Roter Stern Leipzig und konnten bis zu 100 Sympathisanten mobilisieren. Die Polizei ermittelte verdeckt. Nachdem der Verfassungsschutz aber die Ermittlungen versehentlich öffentlich nannte, war die Staatsanwaltschaft im Juli 2011 zu übereilten Durchsuchungen gezwungen. Später übernahm die Generalstaatsanwaltschaft – und stellte die Ermittlungen 2015 ein. Einzelne Mitglieder wurden verurteilt, jedoch nicht als kriminelle Vereinigung.

Faust des Ostens (FdO)

Gründungsdatum im Jahr 2010 ist der 20. April, Hitlers Geburtstag. Die Gründung war auch Reaktion auf die Zerschlagung der HE. Die weit über 100 Mitglieder wurden in der Fanszene von Dynamo Dresden verortet. Sie gaben sich offen neonazistisch, betrieben Kampfsport, begingen Einbrüche, horteten Waffen. Mit einer Razzia 2012 wurde das Treiben beendet. Seit Juli 2013 liegt eine Anklage gegen fünf mutmaßliche Rädelsführer vor. Der Prozess hat noch immer nicht begonnen. Zumindest wurde Mitte 2018 das Verfahren eröffnet.

Nationale Sozialisten Chemnitz (NSC)

Die Gruppe verbarg sich ab 2011 zunächst hinter der harmlos klingenden Interessengemeinschaft Chemnitzer Stadtgeschichte. Zum Kern zählten 14 Personen und bis zu 30 Unterstützer. Die Anführer hatten Kontakte zum NSU-Umfeld. Die NSC absolvierten Schieß- und Kampfsporttraining, griffen Migranten an und organisierten den Protest gegen ein Asylheim in Chemnitz. Im März 2014 wurden die NSC verboten.

Oldschool Society (OSS)

Die Gruppe flog im Mai 2015 auf. Sie plante Anschläge auf Salafisten, Moscheen, Kirchen, Kindergärten, Asylbewerber- und Behindertenheime. Ihre Mitglieder wurden in Augsburg, Mühldorf, Bochum und im Landkreis Leipzig festgenommen. Im April 2016 verurteilte das Oberlandesgericht München vier Täter zu mehrjährigen Haftstrafen und stellte die OSS als terroristische Vereinigung fest. Zwei Verfahren gegen mutmaßliche Mittäter liegen bei der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen.

Gruppe Freital

Die Gruppe entstand Mitte 2015. Ihre Rädelsführer waren ein Busfahrer aus Freital und ein Lagerist aus Dresden. Die Staatsanwaltschaft Dresden wollte gegen die Gruppe als kriminelle Vereinigung ermitteln, die Generalstaatsanwaltschaft sah das nicht so. Schließlich übernahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen, auch wegen versuchten Mordes und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Das Oberlandesgericht Dresden verurteilte sechs Angeklagte im März 2018 zu Freiheitsstrafen zwischen vier und zehn Jahren.

Freie Kameradschaft Dresden (FKD)

Gut ein halbes Jahr nach den ersten größeren Pegida-Demos gründete sich im Sommer 2015 die FKD. Ihre Mitglieder waren an den Ausschreitungen in Heidenau beteiligt, griffen Ausländer und Asylunterkünfte an und überfielen mit der Gruppe Freital ein linkes Wohnprojekt in Dresden. 2017 wurden die ersten beiden Mitglieder zu je drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Seit einem Jahr wird sechs weiteren Angeklagten der Prozess gemacht.

Revolution Chemnitz

Die nun vierte mutmaßlich rechtsterroristische Zelle Sachsens entstand spätestens im September 2018. Sie soll in Chemnitz Migranten und Linke attackiert und am 3. Oktober einen „Angriff auf die Mediendiktatur und ihre Sklaven“ geplant haben. Acht Männer sind in U-Haft.