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Mit den Zweiten lebt es sich besser

Simone Vatter sorgt dafür, dass der Kopf von Kranken nicht kahl bleibt. Das hilft auch dabei, wieder gesund zu werden.

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© André Braun

Von Jens Hoyer

Döbeln. Das Zweithaarstudio von Simone Vatter ist ein nüchterner Raum an der Großen Kirchgasse: Tisch, Sitzgelegenheiten, Spiegel, ein Regal, in dem ein paar Kunstköpfe mit ebenso künstlicher Haarpracht stehen. Die Perücken sind nur bei näherem Hinsehen von echten Haaren zu unterscheiden. „Sie kommen aus Japan, Indonesien und China“, sagt Simone Vatter. Niemand muss dafür Haare lassen. Die Perücken werden aus Kunstfasern hergestellt.

Der Bundesverband der Zweithaarspezialisten hat den 21. Oktober zum Tag des Zweithaars auserkoren. Das klingt erst mal merkwürdig, hat aber einen ernsten Hintergrund. Viele Menschen tragen Haarersatz, weil sie schwer erkrankt sind. Und für viele Patientinnen ist das Aussehen in dieser Lebenskrise durchaus wichtig – auch fürs Gesundwerden, sagt Dr. Tamene Abraham, kommissarischer Chefarzt der Gynäkologie in der Helios Klinik Leisnig: „Die Diagnose Krebs und die notwendige Chemotherapie mit anschließendem Haarverlust ist für viele ein Schock. Prinzipiell gehen Betroffene unterschiedlich damit um. Die Perücke kann beim Übergang in die Normalität helfen.“ Das Aussehen spiele für die meisten Krebspatientinnen eine große Rolle. „Sie möchten nicht ständig darauf angesprochen werden, wie schlecht sie aussehen. Mit dem Haarersatz fühlen sich diese Frauen besser und sicherer. Eine gut gemachte Perücke ist gut für die psychische Gesundheit und das eigene Wohlbefinden. Damit wird schließlich das Selbstbewusstsein gestärkt, was auch die Genesung unterstützt“, so der Chefarzt.

Bei Simone Vatter melden sich viele kranke Menschen. „Ich bin von den Krankenkassen bestellt“, sagte die Friseurmeisterin. Dazu muss Simone Vatter ihre Qualifikation beim Verband der Ersatzkrankenkassen nachweisen. Alle fünf Jahre ist die Prüfung zu wiederholen, erzählt sie. Die Kassen finanzieren den Haarersatz, wenn das echte Haar bei einer Chemotherapie oder einer anderen Erkrankung ausfällt. Die Perücken sind ein Verschleißartikel, erklärt die Zweithaarspezialistin. Ein bis zwei pro Jahr werden von der Kasse bezahlt. Es gibt sie in verschiedenen Qualitäten. Wer die bessere will, muss zuzahlen. „Eine gute Perücke erkennt man nicht. Es sei denn, man setzt sie auf wie eine Bratpfanne, dann sieht es auch aus wie eine Bratpfanne“, sagt Simone Vatter.

Perücken aus echtem Haar sind für die meisten unbezahlbar – die Herstellung ist sehr aufwendig. „In meiner Ausbildung habe ich noch Haarteile machen müssen. aber dazu hätte ich gar keine Zeit. Die Haarspenden dürfen nicht chemisch behandelt sein und müssen auch eine bestimmte Länge haben“, erklärt Simone Vatter die Schwierigkeiten. Gleichwohl gibt es die Aktion Rapunzel, wo Menschen Haare spenden, die zugunsten von Krebskranken versteigert werden.

Die Meisterin berät die Kunden, passt die Perücken an, bringt sie in Form. Es sei günstig, schon immer einige Wochen vor der Chemo ins Zweithaarstudio zu kommen. Meist sind es Frauen, die bei ihr auf dem Stuhl sitzen. Den Männeranteil schätzt sie auf etwa fünf Prozent. Jüngere Leute nutzen auch gerne Mützen und Tücher, um den Haarverlust zu kaschieren. In der Regel tragen die Kunden die künstlichen Haare etwa ein Jahr. „Sechs bis acht Wochen nach der Chemo beginnen die Haare wieder zu sprießen – sie wachsen etwa einen Zentimeter im Monat“, so die Friseurmeisterin.

Das Geldverdienen sei nicht die erste Motivation für ihr Zweithaarstudio, erzählt die Expertin. Noch mehr Antrieb sei es für sie, den Menschen in einer schweren Situation helfen zu können. „Ich mache eine schlimme Sache für sie einfacher. Niemand will gern sichtbar krank sein.“ Die Zweithaarspezialistin nimmt sich meist viel Zeit. „Unter einer Stunde geht hier niemand raus“, erzählt sie.

Emotional nehme sie das manchmal sehr mit, gibt Simone Vatter zu. „Die Leute brauchen viel Mitgefühl, aber kein Mitleid. Meine Energie ziehe ich aus dem Feedback, das ich bekomme. Die Tochter einer Kundin brachte mir mal frischgebackenen Kuchen als Dank dafür, dass ich ihr Hoffnung gemacht habe, das ihre Mutter überlebt.“