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Metaller wollen die atmende Fabrik

Mehr Freiheit für Beschäftigte statt starrer Schichten – und sechs Prozent mehr Gehalt.

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© dpa

Von Sven Heitkamp, Leipzig

Auch wenn die Geschäfte vieler Unternehmen gut laufen: Der sächsischen Metall- und Elektroindustrie steht ein spannungsreicher Winter bevor. Zum Jahresende läuft der Tarifvertrag der Branche aus – und damit endet auch die Friedenspflicht. Die Gewerkschaft IG Metall wie auch die Arbeitgeber laufen sich bereits für die drohenden Auseinandersetzungen samt Streiks warm. Der Vorstand der IG Metall hat seiner Basis gerade rund sechs Prozent mehr Gehalt als Forderung empfohlen. Hinzu kommt der Anspruch, dass Beschäftigte zwei Jahre lang ihre Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden reduzieren dürfen, etwa, um Kinder zu betreuen oder Eltern zu pflegen. Sogar Ausgleichszahlungen für entgangenen Lohn soll es dann geben. „Arbeit ist da“, sagt Olivier Höbel, IG Metall-Bezirkschef für Berlin, Brandenburg und Sachsen. „Es ist an der Zeit für selbstbewusste Forderungen.“ Dazu gehört auch der Abschied von der 38-Stunden-Woche im Osten. „Wir müssen jetzt den Einstieg in diese Debatte finden.“

In der Branche, zu der die großen Automobilwerke in Leipzig, Dresden und Chemnitz gehören, arbeiten landesweit rund 180 000 Beschäftigte. Kaum die Hälfte – etwa 80 000 – sind in der IG Metall organisiert. Jens Köhler ist einer von ihnen. Er ist Betriebsratschef des BMW-Werks in Leipzig mit 5 300 Beschäftigten, und er hat einen dringenden Wunsch: Die Kollegen am Band müssten jeden Monat an zwei bis drei Samstagen arbeiten, bis zu 36 von 52 Wochenenden sind damit blockiert. „Das darf nicht länger die Regel sein, da muss etwas passieren“, sagt Köhler. Die Kollegen wollten statt starrer Regelungen mehr Einfluss auf flexible Arbeitszeiten und Schicht-Einteilungen. Dies hätten Umfragen bestätigt. Auffangen müsste den Mehraufwand mehr Personal. Doch ein solches Verhandlungsergebnis hätte weitreichende Folgen: Zwar liegt die Tarifbindung im Osten nur bei 30 Prozent. Doch etliche Unternehmen haben Hausverträge mit der IG-Metall abgeschlossen – für die die Tarifanpassungen dann auch gefordert würden.

Gewerkschafter Höbel sitzt am Mittwoch in einem Leipziger Café und hat einen Stapel Statistiken vor sich. „Wir blicken auf positive Entwicklungen“, sagt er. Bruttoinlandsprodukt, Produktivität und Umsatzrendite der Branche würden steigen, die Wirtschaft laufe auf Hochtouren, die Auftragsbücher seien voll. „Die Arbeitnehmer sollen an dieser guten Entwicklung teilhaben“, findet Höbel. Daher will die IG Metall auch ein altes Fass wieder aufmachen: Die 35-Stunden-Woche im Osten, so, wie es sie im Westen schon lange gibt. 2003 war ein langer Streik für dieses Ziel erfolglos abgebrochen worden, weil es nicht durchsetzbar war. Aber damals seien andere Zeiten gewesen, sagt Höbel.

Die Arbeitgeberseite erklärt die Gewerkschaftsforderungen allerdings für Nonsens. „Die Forderungen zur Arbeitszeit gehen am Alltag in unseren Betrieben vorbei“, sagt Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger. Für die allermeisten Arbeitszeitwünsche werde schon heute eine Lösung gefunden. Ein Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung aber würde den Fachkräftemangel weiter verschärfen. Im Freistaat vertritt der Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie die Tarifpartner, derzeit sind 59 Unternehmen mit knapp 23 000 Beschäftigten dort organisiert. Und sie machen sich die Haltung von Gesamtmetall zu eigen. Doch die IG Metall sieht das anders. „Das Argument der Arbeitgeber schreckt uns nicht“, entgegnet Höbel. „Viele Mitarbeiter wollen länger arbeiten, besonders Kollegen in Teilzeit und Frauen.“ Zudem bedrohe die Digitalisierung der Industrie 4.0 viele Jobs. Daher müsse mehr für Weiterbildung getan werden, um Kollegen umzuschulen. „Wir verfolgen die Vorstellung von der atmenden Fabrik“, sagt Höbel.

Der Tonlage nach könnte es schwere Konflikte geben. Streiks könnten große Unternehmen in der Region Dresden betreffen, wie etwa die Elbe Flugzeugwerke und die Gläserne Manufaktur, ebenso wie den Druckmaschinenhersteller „Koenig & Bauer“ in Radebeul.