Von Peter Anderson
Meißen. Radler bleiben stehen. Vom Hotel Knorre wird Kaffee herbeigebracht. „Pling, pling, pling“ – so klingt es vom nur wenige Meter entfernten Elbufer. Dort lässt ein Mann kraftvoll den Feustel auf einen stählernen Meißel sausen. Hier versteht jemand sein Handwerk. Jeder Schlag sitzt. Allein auf sein Augenmaß vertrauend schlägt Christian Heerklotz die Jahreszahl 2018 in einen kantigen Granitblock. Darunter fügt er eine Wellenlinie ein.
Das ist Meißens neuer Hungerstein
Versteckt, verschwunden, entdeckt
Neben dem Steinmetzmeister stehen der Naturschützer Peter Strasser und Handwerksmeister Dieter Vogt aus Roitzschen. Heerklotz arbeitet für dessen Unternehmen. Das Dreigestirn verfolgt ein ungewöhnliches Projekt: Einer Idee Peter Strassers folgend, möchten sie Meißen einen Hungerstein zurückgeben. Dabei handelt es sich um ein mindestens bis ins 15. Jahrhundert zurückreichendes meteorologisches Zeugnis. Regelmäßig hielten Menschen am Fluss in der Vergangenheit durch Jahreszahlen und Sinnsprüche auf geeigneten Steine besonders extreme Niedrigwasserstände fest. Im Gegensatz zu heute waren solche lange Perioden der Trockenheit damals unweigerlich mit Hungersnöten verbunden. Daher rührt der Name der steinernen Chronisten.
Der Lehrer an der Meißner Fürstenschule Johann Friedrich Ursinus berichtete in seiner Schrift „Gesammelte Nachrichten zur Geschichte der Stadt und des Landes Meißen“ 1790 von Hungersteinen im Bereich der Triebischmündung. Diese seien 1746 aufgetaucht. Einer von ihnen habe die Jahreszahl 1654 getragen. Seitdem allerdings fehlt von diesen Zeugnissen jegliche Spur. Auf SZ-Nachfrage schreibt Kreis-Denkmalschützer Andreas Christl: „Unser Kollege Hans-Jürgen Pohl hat intensiv nach weiteren Nachweisen gesucht. Bislang gibt es leider weder einen Nachweis, wo sich die Steine genau befanden, noch, wann sie abhandengekommen sind.“ Eine von vielen möglichen Ursachen für das Verschwinden irgendwann nach 1746 bildet nach Ansicht Christls der Ausbau der Elbe für den Dampfschiffverkehr. Möglich wäre auch, dass die Steine bei den Hochwassern der letzten knapp drei Jahrhunderte hinweggetragen wurden. Ebenfalls denkbar, dass sie durch Baggerarbeiten für den Hochwasserschutz ihren Platz wechselten.
Am steinigen Elbufer hat Christian Heerklotz unterdessen sein präzises Werk vollendet. Jetzt werden lange Stemmeisen benötigt. Peter Strasser watet in hohen Gummistiefeln ins Uferwasser der Elbe hinein. Heute steht die Elbe bei einem Meißner Pegel von 1,10 Meter. Der niedrigste Stand wurde diesen Sommer bei 0,94 Meter gemessen. Ergo muss die Wellenlinie als Wasserstandsanzeige noch 16 Zentimeter unter der Oberfläche liegen. Was jetzt folgt, ist Schwerstarbeit. Zuerst fliegen die den Kaventsmann einkeilenden kleineren Steine in die Elbe. Dann drücken, stemmen und schieben die drei Männer den vom Wasser rötlich schimmernden Block immer weiter in den Strom hinein. Dort wird er erneut verkeilt.
Peter Strasser reibt sich die Hände. Als Betreuer der seltenen Würfelnatter kennt er das Ufergelände unterhalb der Knorre sehr genau. Den nun gravierten Stein hat er selbst ausgesucht. Zum Abschluss kommt ein GPS-Messgerät zum Einsatz, um den Standort des neuen Meißner Hungersteins zu bestimmen. Dieser hier soll nicht verloren gehen.