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„Machtkampf um Kinder bringt nichts“

Eine Expertin erklärt, warum Verfahren manchmal nichts mit Kindeswohl zu tun haben. Sie hat auch Tipps für den Fall Ella.

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© Thomas Trutschel

Großenhain. Der Fall der verschwundenen Ella beschäftigt viele Großenhainer. Die Mutter tauchte mit der Sechsjährigen unter, als das Oberlandesgericht am 5. Mai dieses Jahres ein Urteil des Riesaer Familiengerichts bestätigte und der Großenhainerin das Sorgerecht für Ella entzog. Dabei hatte sie mehrfach das alleinige Sorgerecht beantragt. Nun ist der jahrelange Elternstreit ein Fall von Kindesentzug – strafbar, falls die Mutter ins Ausland gereist ist. Doch wie konnte es soweit kommen? Die SZ sprach mit Carola Wilcke vom Verein Mütterlobby in Görlitz, die auch Väter anrufen – aber die meist als offizieller Verfahrendbeistand der Kinder beim Familiengericht auftritt.

Carola Wilcke vom Verein Mütterlobby Sachsen ist selbst Verfahrensbeistand für Kinder.
Carola Wilcke vom Verein Mütterlobby Sachsen ist selbst Verfahrensbeistand für Kinder. © kairospress

Frau Wilcke, Sie haben sich bei uns gemeldet, als Sie von Ella gelesen haben – was beschäftigt Sie so sehr daran?

Das stimmt, ich habe ja mit dem Fall Ella nicht persönlich zu tun und doch habe ich das Gefühl, jedes Wort schon gehört zu haben. Das erinnert mich so an einen anderen Fall – der Prozess ist an der gleichen Stelle gekippt wie offenbar bei Ella. Plötzlich bekommt der Vater das Sorgerecht, weil der Richter die Mutter dafür bestrafen wollte, dass sie einem psychologischen Gutachten nicht zugestimmt hat. Das muss den Betreffenden aber freistehen, sagt das Bundesverfassungsgericht.

Stellen Sie sich doch vor, was mit der Mutter passiert. Sie spürt eine Gefahr und zieht sich zurück, versucht, ihr Kind zu schützen. Das Helfersystem aus Gutachter, Jugendamt, Verfahrensbeistand und Richter versucht, genau diesen Schutzmechanismus aufzubrechen, und die Mutter kommt immer mehr unter Druck, zieht sich noch weiter zurück, aber ihr wird nicht geholfen. In extremen Fällen kann das wirklich zur Flucht führen.

Aber wie sollen Gerichte entscheiden, ohne sich fachlich ein Bild zu machen?

Das ist eben der Knackpunkt. Es liegt am geänderten Familienrecht. Das gemeinsame Sorgerecht soll auf Biegen und Brechen durchgesetzt werden. Aber bei hochstrittigen Trennungen geht das nicht, das lässt einem Elternteil immer die Möglichkeit, Kontrolle und Macht auszuüben – das entspricht aber nicht dem Kindeswohl. Früher wurde das Kind fast automatisch der Mutter zugesprochen, heute werden Kinder zwischen Lobbyarbeit der Parteien zerrissen – beides ist nicht richtig.

Ich erinnere mich an den Fall Julia P. aus Bautzen. Das Gericht verurteilte die Mutter, das anderthalbjährige Kind abzustillen, um es dem Vater zu übergeben. Gutachter bescheinigten der Frau eine Persönlichkeitsstörung und keine Erziehungseignung. Da war die Polizei da, um das Kind in Obhut zu nehmen. Später hat ein anderer Gutachter das anders gesehen, die Mutter hatte plötzlich keine Störung mehr. Aber das oberste Gericht hat die Entscheidung nicht rückgängig gemacht. Es waren Tatsachen geschaffen.

Deshalb plädiere ich dafür, in hochstrittigen Fällen das Kind immer bei demjenigen zu lassen, zu dem es eine sichere Bindung hat. Kinder brauchen Klarheit. Da müssen Erwachsene zurückstecken, aber in Deutschland werden zu oft die Interessen der Erwachsenen durchgesetzt. Wir haben dadurch gerade einen sprunghaften Anstieg an Inobhutnahmen durch das Jugendamt, aber nicht wegen Missbrauchs oder Verwahrlosung, sondern weil sich die Eltern streiten. Man muss sich mal überlegen, was den Kindern da angetan wird.

Aber was kann die Mutter von Ella jetzt tun, um aus der verfahrenen Situation herauszukommen? Untertauchen ist ja auch kein Leben für ein Kind.

Richtig, hier müsste ein Angebot gemacht werden. Im Fall Claudia R. aus dem Vogtland hat sich ein Anwalt engagiert und der Mutter wurde – unter der Auflage, bis zu einer neuen Entscheidung im Mütter-Kind-Heim zu wohnen – eine Rückkehr ermöglicht, bei der ihr das Kind nicht aus den Armen gerissen wird. Man muss die Mütter aus der Situation herausbringen, dass man sie als „die Hysterische“ wahrnimmt, nur weil sie sich keinen Rat mehr weiß.

Aber kann man denn noch etwas tun, wenn das Gericht ein Urteil gesprochen hat, gegen das es keine Berufung mehr gibt?

Ja, im Familienrecht können immer neue Anträge gestellt werden. Das ist ja auch Teil des Problems „Machtkampf“, aber man kann auch eine echte Lösung in so einer ausweglosen Situation herbeiführen. Die Mutter sollte aufgrund des Gerichtsurteils eine Kindeswohlgefährdung prüfen lassen, weil das Kind von der Hauptbezugsperson getrennt wird. Es reicht nicht, die beiden Eltern miteinander zu vergleichen und eine Seite für „erziehungsunfähig“ zu erklären. Mit dem Tatbestand der Kindeswohlgefährdung hat das noch nichts zu tun.

Das Gespräch führte Birgit Ulbricht.