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Leben in Sderot – die tägliche Angst vor den Kassam-Raketen

Die israelische Stadt, nur wenige Kilometer entfernt vom Gazastreifen, steht unter ständigem Beschuss.

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Von Susanne Kailitz

Ich gehe hier nicht weg. Und selbst, wenn wir das wollten: Wo sollen wir denn hin?“ Yehudit Bar-Chai zuckt mit den Schultern. Die Sozialarbeiterin lebt in Sderot, einer israelischen Stadt wenige Kilometer entfernt vom Gazastreifen. Und einer Stadt unter Beschuss: Obwohl sich die israelische Regierung mit der Hamas am 19.Juni auf einen Waffenstillstand geeinigt hat, gehen in Sderot und Umgebung seit dem 24. Juni wieder täglich Kassam-Raketen zu Boden.

„Mein 16-jähriger Sohn schreibt mir dann in einer SMS, die ,Kassameria‘ habe wieder begonnen.“ Ihre Familie ist es nicht anders gewöhnt. Seit 2001 wird Sderot beschossen, die Kinder lernen schon im Kindergarten, dass sie, wenn das Signal „Zeva Adom“ – Farbe rot – ertönt, 15 Sekunden Zeit haben, um in einen der Schutzräume zu flüchten. Es gab Phasen, da gab es diesen Alarm bis zu 40 Mal an einem Tag und in der Nacht, „und dann müssen Sie rennen, egal, ob Sie unter der Dusche stehen oder gerade eingeschlafen sind“.

Ein Umzug kommt für die Sozialarbeiterin, die sich in ihrer Freizeit bei Natal, dem israelischen Traumazentrum für Kriegs- und Terroropfer engagiert, nicht infrage. „Das würde bedeuten, dass wir aufgeben.“ Zudem: Die Preise für Häuser und Wohnungen in der Grenzstadt sind schon seit Jahren am Boden. „Wer will denn schon hierher ziehen?“ Für die 20000 Einwohner der Stadt, fast die Hälfte von ihnen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion heißt es ausharren – und auf Frieden hoffen.

Bleiben will auch Bob Lang. Er bewohnt mit seiner Frau und den vier Kindern ein Haus in Gush Etzion, einer der großen jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Lang lebt damit im palästinensischen Autonomiegebiet – und auch wenn es eines Tagen einen palästinensischen Staat geben wird, will er das Gebiet nicht verlassen. „Unser Volk hat ein Anrecht darauf, hier zu leben. Lesen Sie in der Bibel.“ Eine Zwei-Staaten-Lösung hält er für den verkehrten Weg. „Die Palästinenser schaffen es doch nicht einmal, im Gazastreifen für Ruhe zu sorgen. Wie sollen zwei Staaten sicher nebeneinander existieren?“

Keine Illusionen

Vor einigen Jahren habe es in seiner Siedlung zwei Selbstmordattentate gegeben. „Unsere Antwort war: Wenn ihr uns vertreiben wollt, bauen wir nur noch mehr Häuser. Und das haben wir dann auch getan.“ Es ist diese Mischung aus dem verzweifelten Wunsch nach Frieden und dem Behaaren auf Prinzipien, die in Israel überall spürbar ist. Illusionen macht sich dabei niemand mehr. Auch der Sprecher der israelischen Streitkräfte Mike Vromen nicht. „Wir haben Probleme mit dem brüchigen Waffenstillstand, den Siedlungen und dem Anspruch beider Seiten auf Jerusalem. Dafür gibt es keine schnelle Lösung – wir müssen endlich ein vernünftiges Konfliktmanagement hinbekommen.“

Wie das aussehen könnte, hat der Brüssler Sicherheitsexperte Stefan Liebig auszuarbeiten versucht. „Wichtigstes Element ist die ständige Kommunikation der Konfliktparteien. Ein Ende jeglicher terroristischer Angriffe, ein totaler Stopp des Siedlungsbaus, die gezielte Förderung sozialer und ökonomischer Projekte in den palästinensischen Gebieten wären außerdem wichtige Elemente. So könnten kleine Schritte gemacht werden.“ Für Yehudit Bar-Chais Familie wären es ziemlich große Schritte.