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Langweilige Eltern, nein danke

Die Kretzschmars sind wohl die außergewöhnlichste Familie des Dorfes. Wegen Sohn Tommy hat das Artistenpaar sein Leben aus dem Koffer aufgegeben.

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© Kristin Richter

Von Jörg Richter

Strießen. Schon der Vorgarten an der Dorfstraße in Strießen verrät es: Hier leben kreative Menschen. Denn wer stellt sich schon eine alte Tür auf den Rasen? Sie ist verschlossen, doch im Türblatt haben sich im Laufe der Jahre Spalten gebildet, durch die man durchlugen kann. Für Familie Kretzschmar, die hier lebt, ist diese Pforte auch ein Symbol. „Hinter jeder Tür wartet etwas Neues“, sagt Familienoberhaupt Maik Kretzschmar. Der 52-Jährige kennt das Gefühl, unbekanntes Terrain zu erkunden. Der ausgebildete Balletttänzer war Drahtseilakrobat und Komödiant. Heute heißt das auf Neudeutsch: Comedian. Nun arbeitet er freiberuflich als Heilpädagoge für Kinder mit Lernhindernissen.

Über 30 Jahre lang stand das Paar gemeinsam auf der Bühne und begeisterte das Publikum.
Über 30 Jahre lang stand das Paar gemeinsam auf der Bühne und begeisterte das Publikum. © privat

Auch seine Frau Kerstin, die in ihren ehemaligen Beruf zurückgekehrt ist und jetzt als Erzieherin Kinder in einer Dresdner Kita betreut, war mal Künstlerin. Zusammen mit ihrem Mann reiste sie 30 Jahre lang als gefragte Handstandakrobatin durch die ganze Welt. „Wir hatten ein sehr gutes Leben“, erinnert sie sich. Schon zu DDR-Zeiten durften sie in den Westen reisen. „Für uns war es nichts Besonderes, als plötzlich die Mauer auf war“, erzählt Maik Kretzschmar. Auch wurden Artisten damals gut bezahlt. Sehr gut sogar.

Beide genossen ihre Künstlerzeit und auch das Privileg, auf zahlreichen Kreuzfahrtschiffen, u. a. das frühere ZDF-Traumschiff „Deutschland“, die sieben Weltmeere zu überqueren. Langweilig wurde es nie. Und vielleicht wären sie noch ein paar Jahre länger Artisten geblieben, wenn sie nicht im Januar 2002 auf einer Südseereise einem anderen Künstlerpaar begegnet wären. Es war mit seiner kleinen Tochter unterwegs und schwärmte: „Ein Kind ist eine tolle Sache“. Wie Maik Kretzschmar erzählt, habe der Vater nachdenklich, aber zugleich froh ergänzt: „Da bleibt etwas von einem zurück, wenn man nicht mehr ist.“ Die Ärzte hatten bei ihm Krebs diagnostiziert.

Tief bewegt sannen Maik und Kerstin Kretzschmar, die eigentlich nie Kinder wollten, über ihr Leben nach und beschlossen, ebenfalls Eltern werden zu wollen. Noch im gleichen Jahr klappte es. „Tommy ist ein Hochwasserkind“, sagt Maik Kretzschmar lächelnd. Vielleicht sei der Sohn ja deshalb ein guter Rettungsschwimmer geworden. Erst vor Kurzem gewann der 14-Jährige den Landesmeistertitel in seiner Altersklasse und gilt als großes Nachwuchstalent der DLRG Meißen. Auch der Ort, an dem Tommy schwimmen gelernt hat, ist außergewöhnlich: im Golf von Aden. Da war er gerade mal drei Jahre alt und mit seinen Eltern wiedermal auf Tournee auf einem Kreuzfahrtschiff. „Da war es mir schon wichtig, dass er sich so früh wie möglich über Wasser hält“, erzählt Maik Kretzschmar.

Maik und Kerstin Kretzschmar sind mit dem Künstlerpaar von ihrer letzten Südseereise noch immer befreundet. „Ohne sie hätte es Tommy nicht gegeben“, sagen sie. Und dass ihr Freund fünf Jahre später den Krebs besiegte, freut die Kretzschmars umso mehr.

Vater Maik ist es ganz recht, dass sein Sohnemann nicht in die Fußstapfen seiner Eltern tritt. „Tommy hat mitbekommen, wie wir uns als Artisten täglich geschunden haben“, sagt er. Was so leicht aussieht, sei ein Knochenjob, für den man viel Training brauche. Aber etwas Sportliches sollte der Sohn dann doch machen. Schwimmen ist es geworden. Erst beim SC Dresden, später bei den Rettungsschwimmern der DLRG Meißen.

Tommys Traumberuf dürfte allerdings nicht weniger anstrengend sein. Er will Polizist werden, am liebsten bei der Wasserwacht. „Tommy ist schon ganz anders als wir, so vernünftig“, sagt der Vater. „Aber ich finde es gut, dass er bodenständig ist.“ Und auch Tommy ist ganz zufrieden mit seinem Papa und seiner Mama. „Mit langweiligen Eltern könnte ich nichts anfangen“, sagt er lachend.

Dass die drei Kretzschmars vor etwa zehn Jahren von Dresden nach Strießen gezogen sind, habe Tommy entschieden. Die Familie wollte nach dem Künstlerleben aus dem Koffer aufs Land ziehen. Mehrere Häuser hatten sie sich angeschaut. Doch irgendwie war der damals Vierjährige in das stark renovierungsbedürftige Haus (Baujahr 1933) verliebt. Eine Entscheidung, die sie nicht bereut haben. – Auch wenn die Strießener sich anfangs gefragt haben, was das für komische Leute sind, die sich eine Tür in den Vorgarten stellen.