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Kleine Filme gegen das Vergessen

In Großhennersdorf dreht ein Team Videos, die einstmals markante Gebäude wieder lebendig werden lassen.

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© Weißig

Von Anja Beutler

Großhennersdorf. Großhennersdorf ist reich an Geschichte und Geschichten. Und gerade deshalb ist der Herrnhuter Ortsteil für ein Projekt besonders geeignet, das die neue Medienwelt mit den Erinnerungen an alte Zeiten miteinander verbinden soll. In einem viertägigen Video-Projekt sollen insgesamt 16 Teilnehmer die Geschichte von vier Orten erforschen, dazu Zeitzeugen suchen und Materialien sichten, erklärt Patrick Weißig, der das deutsch-tschechische Projekt in Großhennersdorf leitet und organisiert. Am Ende sollen vier Filme von zwei bis drei Minuten entstehen, die alle direkt vor Ort ansehen können. Wie das gehen soll? „Wir stellen dann beispielsweise dort, wo in Großhennersdorf die Kreuzschule stand, ein Schild auf, auf dem sich auch ein QR-Code befindet“, erklärt Weißig. Dieser Code kann per Mobiltelefon eingelesen und der Film abgespielt werden.

Vergessene Orte in Großhennersdorf

Gasthof Großer Berg.
Gasthof Großer Berg.
Die Windmühle.
Die Windmühle.
Die Kreuzschule.
Die Kreuzschule.
Das Waldhäusel.
Das Waldhäusel.

Dass dieses Modell funktioniert, habe man in Tschechien getestet. Dort ist der Workshop bereits abgeschlossen und Wanderer oder auch Gäste in Novy Bor/Polevsko können nun die Geschichtsvideos ansehen. In Großhennersdorf hat Weißig vier markante Orte ausgesucht: die Gastwirtschaft auf dem Großen Berg, die Windmühle, die zuletzt Familie Engler betrieben hat, das Waldhäusl am Schönbrunner Berg und die Kreuzschule, die einst zur Kreuzkirche gehörte. Diese vier „vergessenen Orte“ existieren entweder gar nicht mehr oder in anderer Form. „Sie können zudem alle auf einer Wandertour erschlossen werden“, erklärt Weißig die Wahl.

Nun geht es an die Recherche: „Es ist schwierig, Zeitzeugen zu finden“, sagt Patrick Weißig. Kein Wunder, denn viele Menschen, die an die Zeiten vor oder kurz nach dem Krieg noch Erinnerungen haben oder Erzählungen kennen, leben nicht mehr oder sind schon längst aus dem Dorf weggezogen. Deshalb sind die Mitglieder des Großhennersdorfer Geschichtsvereins und ihre Veröffentlichungen eine wichtige Quelle. So wie Gottfried Leutsch. Der Mann mit den Weihnachtsbäumen interessiert sich seit Jahren vorrangig für die Euldorfer Geschichte, kennt sich aber auch bei einigen vergessenen Orten gut aus.

Beispielsweise mit der Gastwirtschaft auf dem Großen Berg, über die er bereits einen kleinen Aufsatz geschrieben hat: „Dahinter steckt eine tragische Geschichte“, erzählt Leutsch. Die Schicksalsschläge von Karl Friedrich Neumann und seiner Familie bestimmten nämlich die Geschichte der Bergwirtschaft. „Es war eine Bauernfamilie, deren Gut durch einen Brand im Oberdorf vollständig zerstört wurde“, erklärt Leutsch. Daraufhin kaufte der Bauer ein kleines Grundstück in den Christophhäusern, das auch über die Bergkuppe führte. Geschäftstüchtig erbaute er eine Berggaststätte, erhielt das Schankrecht und konnte tatsächlich viele Besucher anlocken – auch wenn seine Frau von der Idee der Bergwirtschaft nicht begeistert war. Der Tod seiner Frau kurz nach der Geburt des siebten Kindes war es auch, der Neumanns alles aufgeben ließ: „Er verkaufte seinen gesamten Besitz, die Kinder fanden bei anderen Familien ein neues Zuhause“, weiß Gottfried Leutsch zu berichten. Die Berggaststätte wechselte den Besitzer und blieb bis 1957 Ausflugsziel von Wanderern. 1975 kaufte das Görlitzer Krankenhaus die Baude und betrieb hier ein Kinderferienlager.

Solche Geschichten sind es, die in den kleinen Filmen berichtet werden sollen. „Natürlich können wir nicht so tief in die Materie einsteigen in den vier Tagen“, sagt Patrick Weißig, der froh ist, so profunde Kenner wie Gottfried Leutsch gefunden zu haben. Auch die anderen Orte versprechen interessante Geschichten, sagt er. So war die Kreuzschule, die neben der Kreuzkirche stand, viele Jahre zunächst eine kirchlich betriebene Schule. Dann aber haben die Nationalsozialisten sie übernommen und zur Ausbildungsstätte für die Hitler-Jugend umfunktioniert. Als „Braune Schule“ war sie im Ort bekannt. Aus beiden Zeiten gibt es Berichte, die von der Schulzeit erzählen: zum einen den Bericht eines Diakons, zum anderen Aussagen eines früheren Ausbilders an der Schule zu Nazizeiten. Heute ist von den Gebäuden nichts mehr zu sehen: Sie wurden im Krieg zerstört.

Zerstört ist auch die Windmühle. Familie Engler wollte sie nach dem Krieg wieder reparieren und in Betrieb nehmen. Aber ein Sturm am Heiligabend 1963 machte diese Pläne zunichte. Auch vom Waldhäusel ist abgesehen von Grundriss und Keller nicht mehr viel übrig. Es war wohl als Jagdhaus entstanden, später dann wurden hier – analog zur Kreuzschule – die Mädchen zu nationalsozialistischen Menschen erzogen. Patrick Weißig sieht in den vier Filmen eine Art gedankliche Stolpersteine gegen das Vergessen.

Filmprojekt der Netzwerkstatt der Hillerschen Villa vom 11. bis 14. Oktober; Kontakt: [email protected]