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Die Letzten der Gehetzten

Beim Dresden-Marathon begleitet Dietmar Hörnig mit seinem sogenannten Besenwagen kämpferische Schlusslichter fürsorglich ins Ziel.

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© Marion Döring

Von Nadja Laske

Dresden. Zwischen dumpfem Herzschlag und hechelndem Atem diese innere Stimme: „Du musst den Besenwagen abhängen! Du musst!“ Schon nach wenige Kilometern auf der Marathonstrecke hatte Heike Schulz die Reue gepackt: „Warum bin ich nicht auf die Route des Halbmarathons abgebogen!“ Endlich sitzt sie vor dem Kongresszentrum auf einer Bierbank, wenige Schritte hinter der Ziellinie, und weiß warum. Weil sie sonst jetzt nicht so glücklich wäre.

Dietmar Hörnig am Steuer seines Elektro-VW – dem Besenwagen on Tour.
Dietmar Hörnig am Steuer seines Elektro-VW – dem Besenwagen on Tour. © Marion Döring
Trommlergruppen gehören zum Marathonlauf dazu. Ein Dankeschön auch.
Trommlergruppen gehören zum Marathonlauf dazu. Ein Dankeschön auch. © Marion Döring

Der, der sich lange nicht abhängen ließ, hat sein VW-Elektroauto mit der großen Zeitanzeigetafel auf dem Dach derweil am Rand des Getümmels geparkt. Auch für ihn ist das Ziel erreicht: Dietmar Hörnig fährt beim Dresden-Marathon das Schlussfahrzeug, den sogenannten Besenwagen. Neben vielen anderen Aufgaben ist es seine wichtigste, Läufer „aufzukehren“, deren Kräfte versagen. Und er rollt hinter dem letzten Sportler her, notfalls kilometerweit bis ans bittere Ende.

Am Sonntag, gegen halb zwei hatte er seine Tour begonnen. Seit zehn Uhr waren die rund 7000 Teilnehmer des 20. Dresden-Marathons auf den Straßen unterwegs, etwa 1200 von ihnen haben sich die gut 42 Kilometer lange Königsdisziplin vorgenommen. Hörnigs Kofferraum war beladen mit Kisten voller Dresdner Christstollen von Dr. Quendt. Wenn er nicht gerade ein Schlusslicht anfeuerte, stoppte er seinen Wagen immer dort, wo Helfer auf ihren Heimweg geschickt werden können. Aus ganz Deutschland sind Musikgruppen angereist, die den Marathonläufern an Knotenpunkten der Strecke die Erschöpfung aus der Seele trommeln. Ihnen überreicht der Besenwagenkutscher jedes Jahr zum Dank einen Striezel.

Als Heike und Willi Schulz vor ihm auftauchen, drosselt er die Geschwindigkeit und lässt die Fahrerscheibe herunter: „Ich bleibe hinter Ihnen und bin da, wenn Sie mich brauchen“, ruft er den beiden Kölnern zu. Willi nickt und lacht. Heikes Blick bleibt am Boden. Mit sieben Kilometern pro Stunde heftet sich Dietmar Hörnig an ihre Fersen und bietet eine potenzielle Mitfahrgelegenheit. Aber da ist ja noch Heikes innere Stimme. „Ich wollte es schaffen und auf keinen Fall Letzte werden“, erzählt sie im Ziel. Je länger Dietmar Hörnig das Paar beim Lauf beobachtet hatte, desto sicherer wurde auch er: „Die schaffen das. Ihr zwar langsamer, aber kontinuierliche Laufstiel wird sich auszahlen.“

Hörnig weiß, wovon er spricht. Als
37-Jähriger hatte er seinen ersten Supermarathon überstanden – den Rennsteiglauf, 72 Kilometer lang. Besonders gut ist er ihm nicht mehr in Erinnerung. Als Fußballer war er langes Laufen zwar gewöhnt, für einen Marathon aber bedarf es besseren Trainings. Langstreckenläufe begeisterten den heute 73-Jährigen aber fortan. Beim 100. Boston-Marathon war er dabei und lief zwei Mal in Columbus Ohio mit. Bis 2002 ging Dietmar Hörnig regelmäßig an den Start und beendete 2002 mit drei Marathons seine aktive Zeit. Bis heute hat er als Folge des Laufens 150 Zehennägel eingebüßt und alle zur Erinnerung aufgehoben.

„Dreimal die Woche sollte man mindestens eine Stunde lang trainieren und etwa vier Wochen vor dem großen Tag mindestens 30 Kilometer in zügigem Tempo laufen können“, empfiehlt er. Zwischen dem 30 und 35. Kilometer liege der kritische Punkt, bei dem sich der Stoffwechsel des Läufers ändert. Dann seien die Kohlenhydrate verbraucht und der Körper bediene sich an den Fettreserven. „Ich habe vor dem Lauf immer ein kleines Glas Honig ausgelöffelt, aber auch diese Energie reicht nicht bis zum Schluss.“ Außerdem verliere man einen Liter Flüssigkeit pro Stunde und dürfe unterwegs das Trinken nicht vergessen. Sonst könne es böse ausgehen.

Dann bleibt auch mal ein Läufer auf dem Bürgersteig zurück. Oder Dietmar Hörnig sieht schon am Laufstil, dass die Sache nicht gut ausgehen wird. Zwar sei die Kondition der Teilnehmer in den vergangenen Jahren immer besser geworden, aber für den Notfall ist der Besenwagen unerlässlich.

Heike Schulz ist ihm schließlich entkommen. Zusammen mit ihrem Mann, einem versierten Läufer und dank ihres festen Willens, schaffte es die 50-Jährige vor einem polnischen Sportler ins Ziel. „Zwischendurch habe ich nicht mehr verstanden, warum man sich das antut“, gesteht die Kinderbuchautorin, „Das ist schlimmer als Kinderkriegen!“ Und genau so schön. Denn nach der langen Anstrengung bleibt nur das Glücksgefühl zurück.