Merken

Keine Schule seit acht Monaten

Drei Flüchtlingskindern in Dresden bleibt der Schulbesuch verwehrt. Wie ihnen geht es Dutzenden. Dagegen gibt es Protest.

Teilen
Folgen
© dpa

Von Julia Vollmer

Wenn für andere Kinder morgens um 6 Uhr der Wecker klingelt, um pünktlich in der Schule zu sein, beginnt für Abdul, Taja und Noran ein weiterer Tag des Wartens. Warten darauf, wie es weitergeht. Seit acht Monaten gehen die drei Kinder nicht zur Schule. Der Grund: Sie sind Flüchtlingskinder und lebten bis vor wenigen Tagen in der Erstaufnahmeeinrichtung an der Hamburger Straße. Hier gilt keine Schulpflicht. Seit fünf Tagen wohnen sie in einer Wohnung vom Sozialamt. Jetzt gibt es zwar einen Gesprächstermin mit dem Landesamt für Bildung. Zur Schule gehen sie aber immer noch nicht.

Vor acht Monaten kamen sie aus einem afrikanischen Land nach Dresden und stellten einen Asylantrag. Woher genau sie kommen und wie sie im wahren Leben heißen, wollen sie lieber für sich behalten. Zu groß ist die Angst, dass sich die Öffentlichkeit negativ auf ihr Asylverfahren auswirken könnte. Die Eltern machen sich große Sorgen über den fehlenden Schulbesuch. Abdul, Taja und Noran sind zwölf, neun und sechs Jahre alt, alle drei besuchten schon in ihrer Heimat eine Schule. Jetzt besuchen sie nicht mal einen Deutschkurs.

Der erzwungene Ausfall ist dramatisch, die Eltern befürchten, dass die Kinder wieder viel vom Schulstoff vergessen. „Es ist ein riesen Problem, das wir dringend lösen müssen“, so Franziska Michel, Mitarbeiterin der Beratungsstelle beim Ausländerrat.

Wie den drei Kindern geht es noch Dutzenden weiteren. Alle Kinder in den Erstaufnahmeeinrichtungen auf der Hamburger und Bremer Straße werden nicht unterrichtet. Das bestätigen Kultusministerium und Landesdirektion (LDS) auf Anfrage. Stand August sind in der Hamburger Straße 110 Kinder untergebracht, davon 56 im schulpflichtigen Alter. In der Bremer Straße leben zurzeit 41 Kinder, davon 28 in dem Alter. „Nach dem Sächsischen Schulgesetz besteht während des Aufenthaltes in einer Erstaufnahmeeinrichtung grundsätzlich keine Schulpflicht“, so LDS-Sprecherin Mandy Taube.

Diese setze sofort nach der Verteilung auf die Landkreise und kreisfreien Städte ein. Sie gelte dann für jedes Kind unabhängig vom Aufenthaltstitel, betont Kultusministeriumssprecher Dirk Reelfs. Derzeit läuft jedoch bis Ende September das Pilotprojekt „Schulisches Angebot in Sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen“ in einem Heim in Chemnitz. Nach dessen Abschluss soll entschieden werden, ob das Projekt fortgesetzt und auf weitere Einrichtungen ausgeweitet wird.

Genau an dem Chemnitzer Projekt gibt es jetzt Kritik von einem Bündnis aus Ausländerrat, Flüchtlingsrat, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Sachsen (GEW) und anderen. In einem offenen Brief, der der SZ vorliegt, an Innen-, Integrations-, und Kultusministerium betonen die Initiativen, dass mit dem Projekt der Besuch einer Regelschule nicht ersetzt werden könne. In einer Stellungnahme der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Wächtler und Kollegen dazu ist zu lesen, dass es im Sächsischen Schulgesetz keine gesetzliche Grundlage für die Gestattung eines gesonderten Schulunterrichtes für minderjährige Asylbewerber gibt.

Außerdem muss laut EU-Aufnahmerichtlinien Kindern von Antragstellern ein „ähnlicher Zugang“ zum vorhandenen Bildungssystem gestattet werden wie den anderen Kindern. Dieser Zugang darf nicht mehr als drei Monate verzögert werden. „Das vorliegende Curriculum kann keinesfalls als Zugang zum Bildungssystem ,in ähnlicher Weise‘ gewertet werden“, so die Anwälte. Im Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention gibt es außerdem das Recht des Kindes auf Bildung.

Ein Urteil des Münchner Verwaltungsgerichts könnte als Präzedenzfall dienen. Das Gericht urteilte, Kinder aus den bayerischen Transitzentren hätten „Anspruch auf Teilnahme am regulären Schulunterricht“. In Bayern gilt die Schulpflicht für alle Kinder, so Sprecherin Kathrin Ann Gallitz aus dem bayerischen Kultusministerium. Für die Flüchtlingskinder seien Deutschklassen eingerichtet. Auch in Baden-Württemberg dürfen Kinder aus Erstaufnahmeeinrichtungen die Schule besuchen. „Das Recht zum Besuch einer Schule besteht von Anfang an“, so Carsten Dehner, Sprecher des dortigen Innenministeriums. In der Regel werden sie an allgemeinbildenden Schulen in Vorbereitungsklassen oder an beruflichen Schulen in Klassen des Vorqualifizierungsjahrs unterrichtet.

Auf die Frage, ob das Modell aus Baden-Württemberg auf Sachsen anwendbar sei, antwortet das Kultusministerium: „Der Freistaat Sachsen ist gemäß der EU-Aufnahmerichtlinie verpflichtet, für Kinder, die länger als drei Monate in einer Erstaufnahmeeinrichtung sind, einen Zugang zu Bildung zu schaffen. Genau das wird in Chemnitz erprobt.“

Kritik kommt von Sabine Friedel, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion. „Die Schulpflicht gilt für alle Kinder. Spätestens nach drei Monaten sollen Familien ohnehin nicht mehr in den Heimen untergebracht sein. Das war so mit dem Innenministerium vereinbart.“ Grünen-Politikerin Petra Zais findet die fehlende Beschulung „beschämend“.

Wie wichtig ein Schulbesuch ist, betont auch Veit Rößner, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik. „Schule ist ein wichtiger Faktor für Tagesstrukturierung, Stabilisierung, Aufbau sozialer Beziehungen zu Gleichaltrigen, aber auch Ankommen im neuen Land.“