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In der Küche der Soldaten

Annett Thiele lernt langsamer als andere. Die Bundeswehr gibt ihr eine Chance und verändert damit ihr Leben.

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© Sven Ellger

Von Jana Mundus

Als sich die Schranke öffnet, kehrt Annett Thiele für einen Nachmittag zurück in eine ganz eigene Welt. In den Mikrokosmos Bundeswehr. Das Gelände der Offizierschule des Heeres an der Dresdner Marienallee kennt die 28-Jährige gut. Der Zaun rundherum gab ihr vor Jahren Sicherheit. Von Radeburg aus, wo sie vor neun Jahren noch bei ihren Eltern lebte, fuhr sie jeden Tag zur Arbeit in die Kaserne. Was einfach klingt, war für Annett Thiele ein großer Schritt. Denn ihr Leben verlief bis dato anders als das von Gleichaltrigen.

Hinter der Schranke ein großer Platz, Gebäude rundherum. Soldaten in eiligem Schritt, Kameraden, die sich unterhalten. Peter Pilz fällt auf. Weiße Jacke statt Uniform in Tarnflecken-Optik. Sein Einsatzgebiet ist die Küche. Viele Jahre schon leitet er die Küche der Dresdner Offizierschule. An diesem Nachmittag müssen die Kollegen kurz ohne ihn auskommen. Für Annett Thiele macht er Pause. Er freut sich über das Wiedersehen. „Klar kann ich mich noch gut an sie erinnern“, sagt er. Fleißig sei sie gewesen. „Tomaten schneiden, das hat Annett zum Beispiel gern gemacht.“ Während sich andere schnell über immer gleiche Tätigkeiten beschweren würden, konnte sie sich dafür begeistern. Routine, die mag sie, die gibt Sicherheit.

Annett Thiele lernt langsamer als andere, ist in stressigen Situationen schnell überfordert. Gearbeitet hatte sie vorher in der Werkstatt des Epilepsiezentrums Kleinwachau bei Radeberg. Für die Beschäftigten dort auch ein geschützter Raum, sicheres Terrain, ein Mikrokosmos. Annetts Traum damals: Zeigen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt bestehen kann. Vor zehn Jahren entstand eine Zusammenarbeit, die ihr genau diese Chance bringt. Eine Kooperation zwischen der Offizierschule und dem Epilepsiezentrum, die anfangs nur wenige für möglich gehalten hatten – selbst diejenigen, die diese Partnerschaft heute pflegen.

Oberst Johannes Derichs erinnert sich noch gut an die Morgenbesprechung bei seinem damaligen Kommandeur der Offizierschule, Brigadegeneral Franz Pfrengle. „Herr Derichs, wir müssen was mit Behinderten machen“, sagte der zu ihm. „Ich war erst einmal ziemlich ratlos“, erzählt der Oberst heute. Wie sich herausstellt, hatte der Befehl auch persönliche Gründe. Ein Bruder Pfrengles war als Kind an Meningitis erkrankt, war danach geistig behindert. Also suchte Derichs nach einem Partner, den die Offizierschule unterstützen könnte. Über eine Mitarbeiterin in der Kaserne entstand der Kontakt zum Epilepsiezentrum. Die Einrichtung gehört zur Diakonie, ist christlich und pazifistisch. „Das gibt Ärger, war damals mein erster Gedanke“, erinnert sich Katharina Burkhardt. Sie sollte die Partnerschaft auf Kleinwachauer Seite in Gang bringen. Trotz der Bedenken entstand die Idee, Beschäftigte der Werkstätten als Praktikanten in die Offizierschule zu schicken. Annett Thiele war eine der Ersten, die das ausprobierte. Schnell fand sie Gefallen an der Arbeit in der Küche. Nicht nur Tische abwischen oder Geschirr spülen. Peter Pilz traute ihr viel zu. Er ließ sie die Lebensmittel vorsortieren, Zutaten vorbereiten oder an der Essensausgabe helfen. „Für das Küchenteam ist die Arbeit mit den Menschen aus Kleinwachau keine Belastung, sondern eine Bereicherung“, sagt er. Wenn es allerdings besonders hektisch wird, nimmt er die Praktikanten lieber etwas zur Seite. Zu großer Stress ist nichts für sie. Dafür hat er als Chef Verständnis. Am Ende sind alle so von Annett begeistert, dass sie bleiben soll. Lange kämpfen Offizierschule und Epilepsiezentrum darum, dass sie von der Bundeswehr als zivile Arbeitskraft übernommen wird. Letztlich fällt die Entscheidung in einem Berliner Dienstzimmer gegen sie aus. „Das hat mich sehr traurig gemacht“, sagt Annett Thiele noch heute.

Doch von den anderthalb Jahren in Dresden profitiert sie. Sie ist mutiger geworden, traut sich seitdem viel mehr zu. Bei den Eltern ist sie ausgezogen, doch manchmal überrascht sie ihre Familie: „Ich weiß nämlich, wie man einen leckeren Salat macht“, sagt sie stolz. Heute arbeitet sie als Hauswirtschafterin in der Kleinwachauer Klinik. Wenn es dort heute mal hektisch zugeht, macht es ihr nicht mehr so viel aus.

Inzwischen haben 17 Praktikanten des Epilepsiezentrums in der Offizierschule gearbeitet. Neben der Küche auch in der Caféteria, in der Versorgung, die sich um die Kleidung oder Bettwäsche der Soldaten kümmert, bei Gartenrarbeiten auf dem Areal oder in der Bibliothek. „Für viele ist es ein guter Rahmen, sich auszuprobieren“, sagt Katharina Burkhardt. Acht von ihnen haben danach einen Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden. Acht weitere gehören zwar noch offiziell zur Kleinwachauer Werkstatt, arbeiten aber in Unternehmen oder Handwerksbetrieben.

Für die Soldaten sei der Kontakt zu Menschen mit Handicap wichtig, sagt Oberst Derichs. Bei Sommerfesten oder Weihnachtsmärkten in Kleinwachau begleiten die Offiziersanwärter die Bewohner des Epilepsiezentrums. Das verändere auch den Blick auf das eigene Leben und den Beruf. Er selbst war in den vergangenen Jahren bei Auslandseinsätzen in Afghanistan oder Mali dabei. Er kam gesund zurück. „Manchmal kehren Kameraden aber auch mit bleibenden Schäden heim.“ Menschen mit körperlichen Einschränkungen – auch sie gehören heute zum Bild der Truppe. Wie zum Beispiel der Feuerwehrmann, den Derichs in Kleinwachau kennenlernte. Der hatte Menschen aus einem brennenden Haus gerettet, bevor im Gebäude ein Balken auf ihn stürzte. Schwere Hirnschäden und ein Leben im Rollstuhl waren die Folge. „So eine Geschichte vergessen Sie nicht. Es kann eben jeden treffen.“