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Immer mehr Kinder später eingeschult

Viele Mädchen und Jungen in Dresden haben große sprachliche Probleme. Kinderärzte haben dafür eine Erklärung.

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© dpa

Von Julia Vollmer

Ranzen packen, Lesen und Schreiben lernen – am 11. August ist Schulanfang und Tausende kleine Dresdner fiebern auf ihren großen Tag hin. Doch Mathilda Maier muss noch ein Jahr länger warten. Sie wurde zurückgestellt. Amtsarzt, Schulleitung und ihre Eltern haben gemeinsam entschieden, die schüchterne Sechsjährige erst 2019 einzuschulen. „Sie hat noch sprachliche Probleme und sie kann sich noch nicht so gut konzentrieren“, erzählt Mutter Manuela Maier. Die Familie, die eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben will, sagte schweren Herzens die bereits geplante Schulanfangsfeier wieder ab.

Ähnlich geht es immer mehr Dresdner Familien. Die Zahl der Rückstellungen ist in den letzten Jahren gestiegen, so die Stadt. Im Schuljahr 2016/17 mussten 508 Kinder durch den Kinder- und Jugendärztlichen Dienst nach einer Rückstellung erneut untersucht werden. Im Schuljahr 2010/11 waren es noch 256. Die Daten für das laufende Schuljahr liegen noch nicht vor. Experten erwarten aber ähnlich hohe Zahlen wie 2017. Das Landesamt für Bildung (Lasuv) kann weder für 2017 noch für 2018 Zahlen liefern. 2010 waren es aber 213 Rückstellungen, 2016 schon 293.

Gesundheitsamt und Lasuv nennen als Gründe für die Rückstellung Entwicklungsprobleme, die überwiegend in den Bereichen Sprache und visuelle Wahrnehmung auftreten. Genau diese beiden sind wichtige Voraussetzungen, um Lesen und Schreiben zu lernen. Außerdem sei bei den betroffenen Kindern die soziale Entwicklung verzögert. Unter den Kindern, die zurückgestellt wurden, sind auch zu früh Geborene, die komplexe Entwicklungsverzögerungen zeigten. Auch chronisch kranke Kinder mit noch geplanten medizinischen Maßnahmen vor dem Schulanfang oder anderen körperlichen Besonderheiten wurden mitunter zurückgestellt.

Große sprachliche Schwierigkeiten attestiert auch das Sächsische Sozialministerium den angehenden Erstklässlern. Ein Drittel der Kinder in Sachsen könnten nicht richtig sprechen. Demnach haben mehr Jungen als Mädchen Probleme.

Darauf getestet werden die Schulanfänger bei der Untersuchung des Amtsarztes im Herbst. Sie müssen dort verschiedene Aufgaben lösen, bis 20 zählen, Wörter nachsprechen oder Reihen vervollständigen. Danach spricht der Schularzt eine Empfehlung aus. Die finale Entscheidung, ob ein Kind im Schuljahr, in dem es schulpflichtig ist, eingeschult wird oder nicht, trifft der Schulleiter der Wunsch-Grundschule. Eltern können auch selbst einen Antrag auf Rückstellung stellen.

Kein Fernsehen für Kleinkinder

Dass immer mehr Kinder erst ein Jahr später in die Schule kommen, stellt auch Gerold Bruntsch, Schulleiter an der 48. Grundschule, fest. „Die Zahlen steigen, vor allem aufgrund der sprachlichen Defizite.“ Betroffen seien nicht nur Migranten-Kinder, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, sondern auch Kinder von Familien, bei denen der Fernseher sehr oft an ist, sagt er. Ähnliches beobachtet Margitta Kaubitzsch, Schulleiterin an der Canaletto-Grundschule am Großen Garten. „Bei mir gehen teilweise schon ein Jahr vor dem Schulanfang Rückstellungsanträge der Eltern ein“, sagt sie. Sie lädt dann die Betreffenden zum Gespräch ein, um sich selbst ein Bild zu machen. Was ihr Sorgen macht, ist die zunehmende Nutzung von Handys und Tablets schon im Kindergartenalter. „Das hat enormen Einfluss auf die Sprachentwicklung“, sagt Kaubitzsch. Dadurch nehme auch die Konzentrationsfähigkeit ab.

Das bestätigt auch Kinderarzt Sascha Ifflaender. „Studien zeigen klare Zusammenhänge zwischen Fernseh- und Handykonsum im Kleinkindalter und Schwierigkeiten im Bereich der Sprachentwicklung, Aufmerksamkeitsschwierigkeiten sowie Verhaltensauffälligkeiten.“ Kinder unter zwei Jahren sollten deshalb keine Zeit vor Bildschirmen verbringen, auch nicht mitschauen. Bis ins Vorschulalter sollte sie sich nur auf 30 Minuten pro Tag beschränken.

Einen Trend hin zu mehr Rückstellungen beobachtet auch Veit Rößner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik. Allerdings sieht er weniger die Zunahme von größeren sprachlichen Schwierigkeiten bei den Kindern, als eher eine Veränderung bei den Eltern. Es gäbe immer mehr Familien, die die Zurückstellung beantragen und argumentieren: „Mein Kind spielt lieber, als jetzt schon zu lernen und still zu sitzen“. Eltern sollten, so Rößner, ihrem Nachwuchs weder Angst vor der Schule und der damit verbundenen Selbstständigkeit vermitteln, noch übertriebenen Ehrgeiz bei den Leistungen an den Tag legen.