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Im Reich der Reichsbürger

Vor allem in Ostsachsen wächst die Szene. Aber wie gefährlich ist sie wirklich?

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© Archiv/Rene Meinig

Meißen. Lange waren sie wie ein Phantom: die sogenannten Reichsbürger. Mehr und mehr treten sie nun aber aus dem Schatten; auch im Landkreis Meißen. Mit ihren Ansichten, die Bundesrepublik sei eine ferngesteuerte GmbH und das Deutsche Reich habe eigentlich nie aufgehört zu existieren. Und sie warten zunehmend öffentlich mit ihren kruden antisemetischen Weltverschwörungstheorien auf.

Allein im vergangenen Jahr verdoppelte sich die Zahl der vom Verfassungsschutz als „Reichsbürger“ eingestuften Sachsen. Im April 2017 ging man im Freistaat von rund 750 „Reichsbürgern“ aus, jetzt sind es schon knapp 1500, wobei die Geheimdienste von einer höheren Dunkelziffer ausgehen. Laut einer jetzt vom „Spiegel“ zitierten vertraulichen Analyse des Bundeskriminalamts (BKA) liegt Sachsen bei den offiziellen Zahlen deutschlandweit auf Platz vier; die meisten „Reichsbürger“ – rund 4000 – leben aktuell in Bayern.

Aber wie gefährlich sind sie wirklich? Wenn sie auftreten, dann meist aggressiv, so Sachsens Verfassungsschützer. Nicht zuletzt gehöre ein erhebliches Potenzial an „waffenaffinen Menschen“ dazu. Im Kreis Bautzen haben zum Beispiel fünf der Szene zugeschriebene Einwohner einen Waffenschein. So das Sächsische Innenministeriums auf eine Anfrage der Linken-Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz vom Februar. Sachsenweit haben Behörden im vergangenen Jahr 149 „Reichsbürger“ auf ihre waffenrechtliche Zuverlässigkeit überprüft, in 40 Fällen wurde der Waffenschein einkassiert. Und als der AfD-Abgeordnete Carsten Hütter im Februar im Landtag wissen wollte, ob und welche Waffen man bei „Reichsbürgern“ seit Dezember 2016 sichergestellt habe, zählte das Innenministerium halb automatische Pistolen und Revolver, Flinten sowie verbotene Waffen auf, wie eine Bockdoppelflinte und eine Einzelladerbüchse. Ein „Reichsbürger“ im Saarland betrieb übrigens jahrelang ganz offiziell ein Waffengeschäft, so das BKA .

Dass die „Reichsbürger“ zunehmend auch im Landkreis Meißen auftauchen, dürfte unter anderem damit zusammenhängen, dass sich der Schwerpunkt der Szene seit vergangenem Jahr vom Landkreis Mittelsachsen und dem Vogtland nach Zwickau und die Stadt Dresden verlagert hat. Dresden ist in Sachsens rechter Szene eng vernetzt, haben die Verfassungsschützer beobachtet. Und beides scheint eng verwoben. Wobei nur ein Teil der „Reichsbürger“ auch tatsächlich als rechtsextrem eingestuft wird. Von etwa sechs Prozent gehen die Behörden aus; in ganz Sachsen sind es aktuell 92 Personen, teilte Innenminister Roland Wöller (CDU) Ende Mai auf eine entsprechende Anfrage der Linken im Landtag mit.

Ganz so fern von rechtsextremen Gedankengut sieht hingegen Jan Rathje die Reichsbürgerszene nicht. Der Politikwissenschaftler der Amadeu-Antonio-Stiftung berichtete im Rahmen einer Lesung über das Thema. Und Rathje schätzt die Szene als „im Kern antisemitisch und rechtsextrem“ ein. Dass Probleme – wie von den „Reichsbürgern“ propagiert – zum Beispiel mit Hilfe einer Autorität gelöst werden sollen, statt sie in Parlamenten auszudiskutieren, „kommt schon aus der extremen Rechten“. Zudem sieht Rathje an führenden Positionen der Szene Kräfte, „die ihre Anhänger mit Verschwörungstheorien infizieren, von der angeblichen weltweiten Macht des Judentums“. Auch das sei eine Überschneidung mit der rechtsextremen Szene.

Dennoch sieht auch der Politologe, dass sich viele in der Szene von diesem Gedankengut mitreißen lassen, ohne zunächst selbst rechtsextrem zu sein. „Viele schließen sich an, um ihr individuelles Scheitern ertragen zu können.“ Denn nicht wenige „Reichsbürger“ seien gescheiterte Unternehmer oder haben mit Zwangsvollstreckungen zu kämpfen. „Dann tut es gut, wenn jemand erklärt, das Scheitern sei fremden Mächten geschuldet.“ Jan Rathje wundert sich deshalb nicht, dass „Reichsbürger“ zunächst vor allem in strukturschwachen Regionen Zulauf hatten. „In Regionen, in denen es schwer ist, Arbeit zu finden, zumindest eine Arbeit, die einem gerecht wird“. Die Parteien, fordert er im SZ-Gespräch, dürfen sich aus solchen Regionen nicht zurückziehen, sondern müssen das gesellschaftliche Leben tatsächlich am Leben halten, Perspektiven zeigen.

Die „Reichsbürger“ rücken dabei zunehmend auch ins Visier der Staatsanwaltschaften. So liefen von März 2017 bis März 2018 sachsenweit 372 Ermittlungsverfahren. In erster Linie Nötigung, Urkundenfälschung, Beleidigung, Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Körperverletzungen tauchen eher selten auf. Überhaupt gehen die Behörden im Moment davon aus, dass die Zahl der Straftaten auch weiterhin auf einem eher niedrigen Niveau bleibe, heißt es im aktuellen Verfassungsschutzbericht. Trotzdem sieht man zumindest in Einzelfällen das Risiko schwerer Gewaltstraftaten. Wie im Oktober 2016, als ein „Reichsbürger“ in Bayern einen Polizisten erschoss. Wobei einer der ersten überregional bekannt gewordenen Gewaltakte der Szene ausgerechnet in Sachsen stattfand; im Radeburger Ortsteil Bärwalde. Hier hatten 2012 insgesamt 14 Mitglieder eines illegalen „Deutschen Polizeihilfswerks“ einen Gerichtsvollzieher brutal attackiert. Bis auf einen, der als einziger geständig war, wurde alle zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt.

Gerichte wappnen sich deshalb zunehmend, wenn sogenannte „Reichsbürger“ vor Gericht stehen. Meist wollen sie keine Steuern oder Bußgelder zahlen. Regelmäßig kam es deshalb in den Amtsgerichten, so auch in Meißen, zu intensiven Einlasskontrollen. Und auch zu Störungen: Im Landgericht Görlitz weigerte sich im September ein Angeklagter, Platz zu nehmen und lief schreiend durch den Saal.

Die Behörden, wie Verfassungsschutz und Landeskriminalamt, haben die Szene weiter im Blick. Es sei zu erwarten, dass sie sich weiter Waffen beschaffe und Immobilien suche, um Rückzugsräume zu schaffen, in denen sie neben Waffen auch Vorräte lagern wolle, heißt es im Verfassungsschutzbericht. Wobei die Behörden derzeit noch nicht von einem vernetzten Vorgehen ausgehen, sondern die Gefahr gehe vor allem von Einzelnen aus. Noch.