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Im Kofferraum über die Grenze

Peter Gross hatte sich die Sache einfach vorgestellt. Mit seiner Freundin im Kofferraum wollte er über die Grenze. Die Flucht endete in Bautzen II.

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Von Nicole Preuß

Fast unbemerkt zupft Peter Gross seine Frau Christa am Ärmel. „Schau mal da.“ Ein altes Ehepaar läuft durch den Flur des ehemaligen Stasi-Knasts Bautzen II und der jetzigen Gedenkstätte. Der Mann geht am Stock, die Frau zieht ihn hinter sich her. „Das ist so surreal, wenn hier einfach Menschen durchlaufen“, sagt Gross. Dreieinhalb Jahre sah er nur Mitgefangene und Wärter. Der Schweizer war eingesperrt worden, weil er versucht hatte, seine Freundin in den Westen zu bringen. Die Ostberlinerin lag im Kofferraum seines Minicoopers. Sie wollte flüchten und ihren Freund drüben heiraten. Doch der Minicooper kam nur bis zum Grenzübergang.

Christa Gross kann sich noch gut daran erinnern, wie eng es hinter der kleinen Klappe war. Das Reserverad hatten die beiden aus dem Raum genommen, damit sie ein Stück tiefer sitzen konnte. Trotzdem musste sie ihren Oberkörper eng an ihre Beine drücken. Die Lehne des Rücksitzes hatte ihr Freund, Peter Gross, ein wenig vorgezogen. Als Koch eines Schweizer Diplomaten pendelte er zwischen West- und Ostberlin zum Einkaufen. Das Y in seinem Kennzeichen wies ihn als technisches Personal einer Botschaft aus. Das bedeutete, er wurde normalerweise an der Grenze nicht kontrolliert. Darauf baute er auch dieses Mal.

Seine Freundin Christa hatte er bei einer Tanzveranstaltung in Ostberlin kennen gelernt. Bald waren die beiden ein Liebespaar. Der Fluchtversuch im Februar 1975 war nicht ihr erster Ausflug in den Westen. Wochen vorher war Christa Gross, die damals noch Christa Feurich hieß, auf die gleiche Weise nach Westberlin gelangt. Bevor sie in den Kofferraum gestiegen war, hatte sie einen Wodka getrunken und zwei Beruhigungstabletten genommen. Sie sah das Ganze nicht so leicht wie ihr Freund, der heute noch gern sagt: „Ich wollte dieser Regierung ein Schnippchen schlagen.“ Trotzdem klappte es. Peter Gross setzte seine Christa am Kurfürstendamm ab und holte noch eine Bekannte aus Ostberlin, die dann im Westen blieb. Peter und Christa Gross fuhren am nächsten Tag zurück in die DDR. „Es war eine Probe zur Vergewisserung“, sagt Christa Gross. „Dann wurde man mutig, es gab eine Art Kick.“ Beim zweiten Mal verriet sie aber ein Automechaniker, der sich mit Peter Gross angefreundet hatte und sich aus ein paar Bemerkungen seine Theorie zusammengereimt hatte.

Die Grenzer waren schon vorbereitet, als der Koch und seine Freundin es ein zweites, endgültiges Mal versuchen wollten. Erst sah der Schweizer drei Polizisten, die mit Kalaschnikows im Anschlag an das Auto stürmten. Dann musste er in einen Schuppen fahren und nach langen Diskussionen den Kofferraum öffnen. „Da wusste ich, das Spiel ist aus“, sagt er. Die Grenzer machten Fotos von Peter Gross und seinem Auto, von Christa Gross im Kofferraum, vom Aussteigen. Beiden wurde der Prozess gemacht, schon im Wissen, dass sie eigentlich gegen ein Agentenpaar der DDR ausgetauscht werden sollten, das in der Schweiz aufgeflogen war. Peter Gross kam nach Bautzen, Christa folgte später.

Kinofilm machte sie berühmt

Sie lebten im selben Gefängnis und sahen sich einmal in den drei Jahren, die sie dort verbrachten. Doch ab und zu wanderten Zettel hin und her. Christa Gross arbeitete in der Küche und steckte in die Schnitten ihres Freundes ab und zu ein kleines Briefchen. „Die Beamten haben unsere Liebesbriefe hin und her getragen“, sagt Peter Gross. Er muss noch immer beim Gedanken daran schmunzeln. Doch Arrest und Schläge gehörten auch zum Knast-Alltag. Peter Gross war kein bequemer Gefangener, auch weil er wusste, dass er ausgetauscht werden sollte. 1978 war es soweit. Die beiden Freigelassenen gingen in die Schweiz und eröffneten ein Restaurant. In den 80er Jahren machte ein Kinofilm das Schicksal der beiden bekannt. „Einmal Kudamm und zurück“ war an den Kinokassen ziemlich erfolgreich.

An den Ort seiner Haftzeit kommt das Ehepaar inzwischen regelmäßig wieder. Die Gedenkstätte hat eine Ausstellung zu ihrem Fall entwickelt, die nun zu sehen ist. Peter und Christa Gross können das Gefängnis aber jetzt wieder verlassen, einfach durch die Tür.

Die Sonderausstellung „Der Fall Gross“ ist in der Gedenkstätte Bautzen, Mo. bis Do. 10 bis 16 Uhr, Fr. bis 20 Uhr und am Wochenende bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt ist frei.