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Hundert Jahre gemessene Zeit

1918 eröffnete Paul Dylla in Deuben sein Geschäft mit Uhren und Goldwaren. Enkel Mathias Dylla führt es bis heute.

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© Andreas Weihs

Von Thomas Morgenroth

Freital. Mathias Dylla muss erst einmal entspannen. Nein, nicht sich selbst, sondern die beiden Federn des Uhr- und Schlagwerks des Regulators, die für die Zeiger und den Gong zuständig sind. Mit dem linken Daumen drückt der Freitaler Uhrmacher den Sperrkegel weg, mit der rechten Hand steckt er einen Universalschlüssel an den vierkantigen Aufzug. Kein wohliges Seufzen, sondern ein kurzes Schnarren kündet davon, dass die Mechanik nun entspannt ist. Dylla nennt diese Art der Wanduhren übrigens Régulateuren, wie es schon sein Vater und Großvater getan haben.

1918 eröffnete Paul Dylla seinen Uhren- und Schmuckladen auf der Oberen Dresdner Straße 106 in Deuben. Das Haus ist inzwischen abgerissen.
1918 eröffnete Paul Dylla seinen Uhren- und Schmuckladen auf der Oberen Dresdner Straße 106 in Deuben. Das Haus ist inzwischen abgerissen. © Foto: Archiv Dylla

Jetzt kann Mathias Dylla das aus Messing gefertigte Herzstück des Zeitmessers auseinanderschrauben. „Die Reparatur“, sagt der Handwerker mit Blick auf die ausgeleierten Lagerbuchsen der Zahnräder, „wird wohl sechs bis acht Stunden dauern.“ Im Grunde also einen ganzen Arbeitstag. Diese Zeit aber hat der 55-Jährige wegen des Tagesgeschäfts in seinem Laden an der Wilsdruffer Straße in Zauckerode in der Woche nicht. „Die aufwendigen Reparaturen mache ich am Wochenende“, sagt Dylla, der einen kurzen Arbeitsweg hat – er wohnt über seiner Werkstatt.

Mathias Dylla ist Uhrmacher mit Leib und Seele, es ist sein Beruf und seine Berufung – „und mein Hobby“, wie er schmunzelnd gesteht. Ein Sammler aber sei er nicht, sagt Dylla, ihn interessiere das Instandsetzen der Uhren mehr als deren Besitz. Kein Wunder: Die Liebe zur Feinmechanik wurde ihm schon in die Wiege gelegt. Mathias Dylla führt die Familientradition des Uhrmacherhandwerks bereits in dritter Generation fort – und auch das Geschäft. Am 1. Oktober sind es 100 Jahre.

Der aus Schlesien stammende Handwerksmeister Paul Dylla, der in Königshütte eine Uhrmacher- und Goldschmiedelehre absolvierte, kommt wohl der Liebe wegen in das Weißeritztal. 1918 eröffnet er auf der Oberen Dresdner Straße 106 seinen Laden „Uhren und Goldwaren Dylla“ samt Werkstatt. Die Nachfrage ist groß, und die Geschäftsräume sind bald zu klein. 1933 mietet Paul Dylla vom Konsumverein „Vorwärts“ die benachbarten Räume, 1938 kauft er das Haus und das Grundstück.

Den Zweiten Weltkrieg übersteht der Meister ohne Verluste. Der Ruin kommt am ersten Friedenstag, am 8. Mai 1945, als das Ehepaar Paul und Marianne Dylla Glückwünsche zu ihrer Silberhochzeit entgegennehmen. Auch die sowjetischen Besatzer kommen. Allerdings nicht zum Gratulieren – sie rauben den gesamten Warenbestand und sämtliche Reparaturaufträge. In Säcken, weiß Mathias Dylla aus Erzählungen, tragen die Rotarmisten das Lebenswerk seines Großvaters davon.

Noch einmal von vorn

Sein Lebenswille aber bleibt in Freital. Paul Dylla beginnt noch einmal von vorn. Schon bald hat er wieder einen dankbaren Kundenstamm, da kommt der nächste Schicksalsschlag: Der Konsum meldet 1948 Eigenbedarf an, die Landesregierung Sachsen lässt Paul Dylla entschädigungslos enteignen. Über Nacht verliert der Uhrmachermeister sein Grundstück und sein Haus, in dem er bleiben darf – als Mieter.

Die Familie Dylla bekommt das Anwesen nie zurück. Eine Rückübertragung nach der Wende scheitert. „Wir hätten es dann Mitte der Neunzigerjahre von der Stadt kaufen können“, sagt Mathias Dylla, „allerdings für 250 000 Mark.“ Er schätzt den damaligen Wert der Immobile auf höchstens 30 000 Mark. Was wohl stimmen könnte: Keine zehn Jahre später lässt die Stadt das marode Haus abreißen.

Paul Dylla aber hält allen Widrigkeiten zum Trotz den Geschäftsbetrieb aufrecht, mit seiner Frau, Tochter Annemarie, den Söhnen Günther und Jürgen sowie kriegsversehrten Umschülern. Im Januar 1959 stirbt Paul Dylla im Alter von 71 Jahren, sein Geschäft überlebt ihn nur ein Jahr. 1960 schließt Marianne Dylla Laden und Werkstatt für achtzehn Jahre zu – obwohl beide Söhne beim Vater das Uhrmacherhandwerk gelernt hatten. Günther, Jahrgang 1922, flieht 1959 aus der DDR nach München, und Jürgen, 1939 geboren, arbeitet aus finanziellen Erwägungen heraus lieber als Feinmechaniker im Edelstahlwerk und als BMSR-Techniker in Dresden.

Bis Jürgen Dylla 1978 schließlich doch in die Fußstapfen des Vaters tritt und in Zauckerode das Uhrengeschäft Dylla wieder eröffnet. Bald arbeitet Sohn Mathias, der bei der Firma Bachmeyer in Hainsberg Uhrmacher gelernt hat, im elterlichen Betrieb mit. Auch sein Bruder Hans-Jörg Dylla hilft in der Werkstatt aus. Er ist Werkzeugmacher und fertigt Ersatzteile an.

„Wir konnten uns vor Aufträgen kaum retten“, erinnert sich Mathias Dylla. Bis zu einem Dreivierteljahr betragen die Wartezeiten für größere Reparaturen. Obwohl das Geschäft floriert, will Mathias Dylla weg von Freital, weg aus der DDR, zu seinem Onkel nach München. 1985 stellt er einen Ausreiseantrag, aber erst 1989, sein Onkel ist inzwischen gestorben, kommt Dylla über Ungarn nach Bayern. Er bleibt drei Jahre und arbeitet bei einem Juwelier, der ihm die Fertigkeiten der Goldschmiedereparaturen lehrt. Ein Umstand, der als zweites Standbein vielleicht das Familienunternehmen in Freital gerettet hat.

Wichtige Episode in Bayern

„Wir konnten so auch Goldschmiedearbeiten anbieten“, sagt Mathias Dylla, der 1992 wieder ins väterliche Geschäft einsteigt. Zu einer Zeit, als kaum einer mehr seine Uhr reparieren lassen will – die Wegwerfgesellschaft war mit aller Wucht im Osten angekommen. Das hat sich mittlerweile geändert: „Wir haben wie zu DDR-Zeiten wieder rund eintausend Reparaturen im Jahr“, sagt Mathias Dylla. Mehr als die Hälfte davon sind Armbanduhren. Ansonsten repariert der Handwerker Wecker, Regulatoren und sogar historische Grammophone, die ja letztlich auch von einer Art Uhrwerk angetrieben werden.

Am 31. März 2002 übernimmt Mathias Dylla Geschäft und Werkstatt von seinem Vater. Mit zwei Angestellten führt er derzeit den Familienbetrieb. Wenn er in den Ruhestand geht, wird es wohl keine „Uhren- und Goldwaren Dylla“ mehr in Freital geben. Jedenfalls hat Mathias Dylla keinen Nachfolger aus der Familie. Seine beiden Töchter haben sich beruflich anders orientiert. Mathias Dylla akzeptiert das und räumt ein, dass seine Liebe zur Uhrmacherei schon sehr ausgeprägt ist. Die wollte am Ende selbst seine Frau nicht mehr mit ihm teilen, was er irgendwie versteht.

Wahrscheinlich hatte sie andere Vorstellungen von Entspannung als ihr Mann, der dafür einen Universalschlüssel an einem Uhrwerk ansetzt. Und wenn der Regulator, der oft älter ist als das Uhrengeschäft Dylla, die Zeit wieder richtig anzeigt, ist es für Mathias Dylla der schönste Lohn.

100 Jahre „Uhren und Goldwaren Dylla“, Festwoche vom 1. bis 6. Oktober, Wilsdruffer Str. 112, Freital.