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Hinter der hundertjährigen Theke

Ellen Bethe betreibt das älteste originale Geschäft der Neustadt und sähe gern eine Zukunft dafür.

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© Sven Ellger

Von Nadja Laske

Wie im Stummfilm bummelt das Neustädter Straßenleben an Ellen Bethes Ladentür vorbei. Sie sieht es durch die große Scheibe, wie ihr Vater es auch schon sah. Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, mag es weniger bunt gewesen sein, als heute. Doch dem Wein- und Spirituosenhändler fehlte ohnehin die Zeit, um lange zu schauen, was draußen passiert. Er hatte drinnen zu schuften oder war auf Warensuche unterwegs.

Heute wirkt das Geschäft, dort wo die Böhmische Straße auf die Alaunstraße trifft, wohltuend und besorgniserregend ruhig zugleich. Seit 1871 hält es bereit, was der Mensch braucht, um auf glückliche Momente anzustoßen oder Ärger herunterzuspülen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Hinterhof des Hauses noch Likör gebrannt, und auch wenn Ellen Bethe heute eine Flasche Schloss Wackerbarth, eine Scheibel Birnen-Karaffe oder einen Schlichte Steinhäger Wacholderschnaps im Tonkrug auf die moosgrüne Linoleum-Theke stellt, atmet das Geschichte.

Denn an dieses Möbelstück tritt seit fast 100 Jahren Kundschaft heran. Ein Vorgänger von Ellen Bethes Vater hat zu seiner Zeit den Verkaufsraum modern einrichten und den Tresen bauen lassen, ebenso wie die Glasvitrinen. Nicht immer stand darin ein solch reiches Angebot wie jetzt.

„Unser Vater hat das Geschäft 1949 übernommen.“, sagt die 63-Jährige. Mit „unser“ meint sie sich und ihre sechs Jahre ältere Schwester Birgit, die gelegentlich im Laden mithilft. Vor dem Krieg sei der Vater als Vertreter der Firmen Underberg und Schlichte viel unterwegs gewesen. Doch die Unternehmen waren im Westen angesiedelt. „Weil er die Heimat nicht verlassen wollte, hat er sich für den Laden entschieden und die Freiheit manchmal vermisst.“

So wuchsen die Schwestern förmlich in dem kleinen Eckladen auf. Auch die Mutter arbeitete mit. „Schon als wir noch ganz klein waren, haben wir spielerisch Fläschchen sortiert“, erzählt Ellen Bethe und muss bei einer Erinnerung lachen: Mit ihrem Puppenwagen hantierte sie hinter besagter Verkaufstheke und sammelte darin kleine Schnaps- und Likörflaschen. „Die waren zwar leer, aber ich habe trotzdem immer noch ein Tröpfchen herausbekommen.“ Die Krux daran: Gerade in der Nachkriegszeit waren nicht alle Kunden, die das Leergut brachten, gepflegt und gesund. „Ich habe die Mundfäule bekommen und meine Schwester auch noch damit angesteckt.“ Erst als die Eltern den Fundus ihrer Tochter im Puppenwagen entdeckten, war ihnen klar, woher die Infektion stammte.

Mit Rucksäcken, Leiterwagen oder gar Schlitten zogen die Mädchen später los, um Ware abzuholen. „Die staatliche Zuteilung in der DDR hat nie gereicht, wir wurden ständig leer gekauft.“ Doch Ellen Bethes Vater kannte aus seiner Zeit als Spirituosen-Vertreter noch so manche kleine Brennerei in der Region. Lange half ihm auch das nichts, denn ihnen ging bald der Geist aus. Ohne Rohstoffe kein Brand.

Rosenthaler Kadarka war damals für 6,30 Mark zu haben, Klarer für elf und Nordhäuser Korn für 17,60 Mark. Die Preise hat Ellen Bethe alle noch im Kopf. Seit 1986 führt sie den Laden. „Liköre kosteten 11,90 Mark“, sagt sie. Für Sekt zahlten die DDR-Bürger mindestens 15 Mark, für Krimsekt sogar 19 Mark.

Mit dem Mauerfall jedoch fielen auch die Preise ins Bodenlose. „Es war richtig gespenstisch“, erinnert sich Ellen Bethe. Gab sie wie üblich dem Großmarkt ihre Bestellungen am Telefon durch, erhielt sie täglich die Ansage: Preisnachlass. „Manche Flasche wurde für nur noch zwei Mark verkauft, der Großhandel wollte die DDR-Produkte loswerden und die Lager mit Westprodukten füllen.“ Damit begann eine ebenso aufregende wie anstrengende Zeit für den Familienbetrieb. „Mein Vater lebte ja noch und hat uns viele Ratschläge gegeben, welche Produkte wir unbedingt ins Sortiment holen müssen.“ Ständig luden Vertreter kistenweise Ware ab, und Messen luden ein, um Marken an den Mann zu bringen. „Die Zeit ist förmlich verflogen“, sagt Ellen Bethe.

Fast dreißig Jahre später scheint die Zeit manchmal wie angestemmt. Supermärkte machen Spezialgeschäften das Leben schwer. Und doch hat Ellen Bethe treue Kunden, solche, die gute Beratung schätzen. Im ewigen Ladenkarussell der Dresdner Neustadt ist ihr Geschäft das älteste Original überhaupt. Ob es jemand weiterführen wird? Sie weiß es nicht.