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Hindernisse gibt’s nicht

Sebastian und Kristina Hendel sind eine besondere Läuferfamilie aus dem Vogtland. Jetzt hat er sogar die EM-Norm.

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© Robert Michael

Von Michaela Widder

Als er als kleiner Junge seine ersten Runden im Stadion am Wasserturm drehte, war Sebastian Hendel meistens Letzter. „Ich war ein kleiner Moppel, hatte wenig Talent“, sagt er. Auch die Trainer in seinem Heimatverein verloren die Hoffnung, dass er als Leichtathlet jemals etwas erreichen würde. Sein Vater Udo Hendel, der Bäckermeister aus Reichenbach, übernahm das Training in Eigenregie und schaffte es, ihn doch noch für die Rennerei zu begeistern. „Laufen ist viel Kopfsache, und ich hatte den Ehrgeiz“, sagt Sebastian Hendel.

2018 ist sein Jahr. Im Mai wurde der Sachse überraschend Deutscher Meister über 10 000 Meter, und viele fragten danach: „Wer ist dieser junge Kerl?“ Am vergangenen Wochenende steigerte der 22-Jährige von der LG Vogtland beim Meeting im niederländischen Leiden in 28:44,68 Minuten seine Bestzeit um eine halbe Minute, unterbot damit deutlich die Norm (28:55) für die Europameisterschaft im August in Berlin. „Das war ein großer Sprung, aber ich habe mir das auch zugetraut. Nun muss ich noch bis 1. Juli zittern, dass es mit der Nominierung auch wirklich klappt.“

In der deutschen Bestenliste liegt Hendel hinter Richard Ringer und Amanal Petros auf Rang drei, und genau drei Startplätze hat der Deutsche Leichtathletik-Verband bei der Heim-EM. Marathon-Ass Arne Gabius stieg bei seinem Qualifikationsversuch in Oslo über die Distanz aus. Er wird es nicht mehr ins EM-Team schaffen. Hendel hofft nun, dass bis 1. Juli auch kein anderer Läufer seine Zeit unterbietet.

Es ist sein erstes Jahr bei den Männern, und man kann jetzt schon sagen, dass er der Newcomer auf der Langstrecke in Deutschland ist. „Ohne den Kleinen würden wir nicht hier stehen, wären wir nicht da, wo wir sind. Er motiviert uns“, erklärt der junge Papa und hält stolz den gut anderthalbjährigen Jonathan auf dem Arm.

„Leben ist das, was passiert, während Du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen“, hat John Lennon einst gesagt, und Sebastian Hendel kann dem wohl nur zustimmen. Nach dem Abitur hatte er ein Sportstipendium am Iona College in New York angenommen und dort im August 2015 seine Kristina, eine kroatische Hindernisläuferin, kennengelernt. Im Januar wurde sie ungeplant schwanger. Kurz zuvor hatte die damals 19-Jährige über 3 000 Meter einen neuen nationalen Jugendrekord in der Halle aufgestellt.

Plötzlich stand ihr Leben Kopf. „Kristinas Schwangerschaft hat alles über den Haufen geworfen. Wir standen vor vielen schweren Entscheidungen“, erzählt er. Sie brachen ihr Studium ab, heirateten in Kroatien und zogen nach Reichenbach, wo seine Familie wohnt. Im Oktober 2016 kam Jonathan auf die Welt. „Ich war nach drei Monaten so fit wie vor der Schwangerschaft“, erzählt die junge Frau aus Zagreb. Die Hendels mussten sich neu sortieren – als junge Eltern. Dazu wollten beide zurück in den Leistungssport. Und jetzt sind sie schneller als je zuvor.

„Turbo-Mama“ aus Kroatien

„Es funktioniert nur, weil wir ein gutes Umfeld haben. Meine Schwester hat gerade Elternzeit, und die Familie hilft uns“, sagt der frühere deutsche Jugendmeister über 3 000 und 5 000 Meter. Die Betreuung ihres Sohnes teilen sie sich – auf und neben der Bahn. Im vorigen Jahr schafften es beide gleich zur U-23-EM nach Ungarn. „Auf dem Flughafen werden wir schon angeschaut, wenn wir mit dem Kleinen unterwegs sind.“ Als sie Anfang des Jahres gemeinsam im Trainingslager in Südafrika waren, stießen sie an ihre Grenzen. „Das war anstrengend, weil Jonathan krank und daher sehr anhänglich war“, erzählt er.

Für die spezielle Familiensituation hat sein Vater als Trainer besonderes Verständnis, und flexibel müssen sie ohnehin alle ein bisschen sein. Udo Hendel steht von Mitternacht bis mittags in der Backstube, schläft danach drei Stunden und betreut am Nachmittag nicht nur seinen Sohn, sondern eine Trainingsgruppe. All sein Wissen hat er sich autodidaktisch beigebracht und ist damit ziemlich erfolgreich.

Sein Sohn gehört dem deutschen Nachwuchskader an, und es steckt viel Potenzial in dem 1,84 Meter großen Läufer. „Unser gemeinsames Ziel ist Tokio 2020“, sagt Sebastian Hendel. Seiner Frau, die sie in den kroatischen Medien „Turbo-Mama“ nennen, fehlt noch die EM-Norm über die Hindernisse. Die 22-Jährige hofft, im nächsten Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten und dann Teamkollegin von Europameisterin Gesa Felicitas Krause zu werden.

Die Unterstützung vom kroatischen Verband ist spärlich. „Da bekomme ich höchstens mal ein paar Vitaminpillen geschickt“, erzählt sie. Die Familie lebt von ein paar Sponsoren aus der Region, einem Vertrag mit einem Sportartikelhersteller und Bafög. Sebastian Hendel hat nebenher in Zwickau ein Studium zum Wirtschaftsingenieur angefangen. „Ich glaube, in meinem Studienjahrgang kennt mich kaum jemand“, meint er. Dafür steigt gerade sein Bekanntheitsgrad in der Laufszene.