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Hier wohnt die Geschichte

Was vor 100 Jahren in einem Cottaer Haus geschah, lässt sich heute entdecken. Besuch in einem besonderen Museum.

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© Christian Juppe

Von Annechristin Bonß

Was mag er für Menschen getroffen haben? Was mag er gesehen haben? So weit weg von der Heimat, so weit weg von Alltag und Normalität. Waldemar Boden kann es nicht mehr erzählen. Vom Einsatz im Zweiten Weltkrieg an der Front in der Sowjetunion kehrte er nicht zurück. Ein Brief kam später an. Gefallen. Irgendwo in der heutigen Ukraine. Das war 1943. Er kann nicht mehr berichten. Dafür berichten seine Skizzen. Ulrich Müller hält die drei Bücher seines Großonkels in den Händen. Er schlägt eine der Seiten auf: Ein alter Mann mit Vollbart guckt ihn dumpf an, mit leeren Augen. Eine Frau mit Kopftuch hält ein Kind auf dem Arm. Eine Weide weht über schlichten Holzkreuzen. Eine Kolonne von Armeefahrzeugen steht an der Straße. Ein erschöpfter Soldat hat sich auf einer Bank zusammengerollt.

Waldemar Boden fertigte diese Skizzen an der Front. Von dort kam er nicht zurück. Nun erzählen die Zeichnungen von seinen Erlebnissen im Krieg.
Waldemar Boden fertigte diese Skizzen an der Front. Von dort kam er nicht zurück. Nun erzählen die Zeichnungen von seinen Erlebnissen im Krieg. © Christian Juppe

Die drei Skizzenbücher von Waldemar Boden sind Teil der großen Sammlung im Cottaer Geschichtshaus „Haus Boden“ an der Gottfried-Keller-Straße 30. Seitdem das Haus 1890 gebaut wurde und die ersten Bewohner einzogen, ist vieles erhalten geblieben, manches sogar nie verändert worden. Dokumente, Fotos, Bücher, Geschirr, Möbel, Kleidung, Alltagsgegenstände – Relikte aus einem ganzen Jahrhundert sammeln sich hier. Viele der Besitzer hießen Boden mit Nachnamen, auch die Großmutter von Ulrich Müller. Deshalb trägt das Museum nun diesen Namen. 2002 hat sein Vater das Haus übernommen. Damals war die letzte Bewohnerin gestorben. Ilse Flemming war die Großtante von Ulrich Müller. Als Kind hat er sie oft besucht. Im Garten haben sie dann gesessen, die Kirschblüten fielen wie Schnee auf die Kaffeetafel herab, die Vögel zwitscherten. Alles Erinnerungen, die er mit diesem Haus verbindet.

Vor anderthalb Jahren hat Ulrich Müller erstmals sein Haus der Öffentlichkeit gezeigt. Beim Tag des offenen Denkmals kamen Hunderte. Zusammen mit seinem Bruder Moritz will der 50-jährige Berliner die Sammlung erhalten. Es gibt einen Verein. Einmal im Monat, an jedem dritten Sonnabend, können Besucher zum Haus kommen. Dann zeigt Ulrich Müller seine Schätze. Zudem organisiert er Geschichts-Werkstätten. Die Teilnehmer sollen dabei in lockerer Atmosphäre einzelne Relikte im Haus erkunden, die Geschichte recherchieren und so einen Teil für das Museum beisteuern. Die drei Skizzenbücher von Waldemar Boden wurden bei der ersten Werkstatt untersucht und Fotos von den Bildern gefertigt. Weitere Termine sollen folgen. Dafür können sich Interessenten auch aus Schulen melden.

Denn Ulrich Müller und die anderen Vereinsmitglieder brauchen Hilfe. Allein können sie die Menge an Dingen im Museum nicht bewältigen. Die große Fülle macht es schwer, gleicht einer Sisyphus-Arbeit. Alles muss einzeln angesehen, archiviert, katalogisiert und inventarisiert werden. Schließlich sollen Besucher erfahren, was sie betrachten. Sie sollen die Geschichte hinter jedem einzelnen Detail kennen und Parallelen zum heutigen Leben ziehen. „Erst das macht es doch spannend“, sagt Ulrich Müller.

Für die Arbeit nutzt er auch die Internetplattform „Museum digital“. Dort präsentieren Einrichtungen aus ganz Deutschland ihre Sammlungen. Zum Foto des Objektes steht Wissenswertes. Das soll helfen beim Bewahren aber auch beim Forschen. Wer hier nach Fotos und Dokumenten sucht, findet Ansprechpartner vor Ort. Das Museum Haus Boden ist derzeit neben dem Stadtmuseum das einzige in Dresden, dass sich auf der Plattform präsentiert. Für Ulrich Müller ist die Beschäftigung mit den Dingen eine Herzenssache.

Nicht nur weil der promovierte Historiker auch im Fach Museum und Ausstellung studiert hat. „Das Haus ist meine Berufung“, sagt er. Wann immer er eins der Dinge aus dem Haus in den Händen hält, kommen die Erinnerungen. Bei jedem Foto, bei jedem Buch, bei jedem Holzschnitt. Ist das nicht anstrengend? Ständig umgeben von der eigenen Familiengeschichte, samt aller Tragik, Schönheit, den Schicksalen und Momenten voller Freude. „Ja, manchmal ist es auch schwer, dann gehen mir die Schicksale nahe“, sagt er. Aber eben nur manchmal. Die Neugier, der Spaß am Stöbern, am Recherchieren, am Konservieren überwiegt. So bleibt die Erinnerung wach.

Wie die an Waldemar Boden, der an der Front starb. Seine Biografie lässt sich anhand von Unterlagen genau nachvollziehen. Er hat als Kunstlehrer an der Altstädter Höheren Mädchenschule gearbeitet und auch vor dem Krieg viel gezeichnet. Vor allem mit Kohle. Was würde er von der Front erzählen? Würde er genauso euphorisch vom Einsatz schreiben, wie es in einem Brief an seine Halbschwester Ilse steht? Auch diese Feldpost vom Oktober 1939 gehört zur Sammlung im Haus Boden. Es sind zwei ganz unterschiedliche Geschichten aus dem Krieg. Nur zusammen machen sie das Bild komplett. „Deshalb ist es wichtig, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen“, sagt Ulrich Müller.

Informationen zum Museum:Telefon 030/44676713. Jeden dritten Sonnabend im Monat, 12–18 Uhr, geöffnet, Eintritt 5 Euro, Ermäßigung möglich, Gottfried-Keller-Straße 30. www.vereinhausboden.net