Merken

Hat hier jemand „Alter“ gesagt?

Als junger Kerl fieberte Wolfgang Bilek mit den Dresdner Fußballern mit. Später half er, die Stadt wieder aufzubauen.

Teilen
Folgen
© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Links, gleich an der Eingangstür, steht seine Gehhilfe. „Eigentlich brauche ich keine“, sagt Wolfgang Bilek, „aber damit bekomme ich in der Bahn einen Sitzplatz.“

Wer diesen Mann in seiner grell-orangefarbenen Outdoor-Jacke so beschwingten Schrittes durch den Park laufen sieht, der mag nicht glauben, dass er 90 Jahre alt sein soll. 70 vielleicht, ja. 75, okay. Aber 90? Wolfgang Bilek versichert trotzdem, im Februar 1928 in Dresden geboren worden zu sein. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht. Er hat hier Fußball gespielt, er hat hier gelernt, er hat hier geliebt und er hat hier geschuftet. Und er hat noch lange nicht genug von seinem Leben.

Für den Interviewtermin in seiner kleinen Wohnung in Johannstadt hat er sich Notizen auf einen Zettel geschrieben. Wer hat schon 90 Jahre voller Erinnerungen mal eben so auf Abruf parat? Bei einigen Stichpunkten hat er ein bisschen Mühe. „Wie sagt man? Hat’s geschrieben und kann’s nicht lesen ...“

Als kleiner Junge wohnte er zunächst auf der Jahnstraße und sah Bücherverbrennungen auf dem Wettiner Platz. Seine Mutter starb vermutlich bei seiner Geburt. So genau weiß er das nicht. 1934 heiratete sein Vater erneut. Die Familie zog nach Löbtau. Der kleine Wolfgang hatte zu dieser Zeit nur Fußball im Kopf. Kein Spiel seines Dresdner SC durfte er verpassen. Obwohl die Straßenbahn nur 18 Pfennig kostete, lief er mit seinen Freunden meist zum Stadion am Ostragehege, um dort seine Idole um den späteren Weltmeistertrainer Helmut Schön zu erleben. Der wohnte zudem im Nachbarhaus in Löbtau. „Die Begegnungen mit ihm haben mich immer beeindruckt“, erinnert sich Wolfgang Bilek.

Auf die Schule hatte er dagegen anfangs weniger Lust. „Meine Tante hat mich hingeschafft und ich war eher wieder zu Hause als sie“, erinnert er sich. Ein guter Schüler wurde er später aber dennoch. „Meine Zensuren könnte ich meinen Urenkeln beruhigt zeigen.“ Vier von der Sorte hat er inzwischen. Einer von ihnen trainiert sogar bei Dynamo mit. Bei einem Turnier wurde er neulich als bester Spieler und Torschütze ausgezeichnet. „Bei dem Urgroßvater musste das ja klappen“, sagt Wolfgang Bilek, während er auf das Foto des Nachwuchses auf seinem Tisch blickt.

Auf anderen Bildern an der Wand ist er gemeinsam mit seiner Frau Lieselotte zu sehen. Mehr als 60 Jahre lang waren die beiden verheiratet, bevor sie 2014 einschlief. Ihr Verlust bewegt den sonst um keinen Witz verlegenen Mann noch heute sehr. Nur ungern spaziert er durch den kleinen Park in Johannstadt, durch den er sie zuletzt im Rollstuhl geschoben hat.

Mit ihrer 1954 geborenen Tochter reisten sie viel und gern, zuletzt am liebsten in die Berge nach Bayern. Bis 2013 fuhr Wolfgang Bilek selbst noch Auto. Zu DDR-Zeiten war ihr 1977 bestellter Neuwagen auch 1989 noch nicht ausgeliefert worden. Machte aber nichts, denn für ihre gebrauchten Trabis durften sie genauso viel zahlen. Seine Augen werden feucht, wenn er an die glückliche Zeit mit seiner Frau denkt. Dann schaut er lieber auf den Zettel vor sich. Und erzählt vom Krieg.

Mit 16 wurde er eingezogen, musste zu einer Kuriereinheit nach Berlin. Von dort aus begleitete er Pakete, Taschen und Koffer zu Zielen in ganz Europa. Oft wusste er selbst nicht, was er da transportierte.

Als er im Februar 1945 von einer Reise nach Italien zurückkam, habe er von Großenhain aus den Feuerschein über Dresden gesehen. Dennoch fuhr er in die Stadt. Drei Tage lange suchte er nach seiner Mutter und seiner Schwester. Schließlich fand er sie wohlauf in Weißig.

In den Regalen in seinem Wohnzimmer steht heute ein Dutzend Bildbände über das zerstörte Dresden. Er gehörte zu denjenigen, die seine Heimatstadt in den folgenden Jahren wieder aufbauten. 1946 machte Wolfgang Bilek eine Lehre als Maurer. „Anfangs sind wir aber kaum zum Mauern gekommen“, sagt er. Erst einmal mussten die Trümmer fortgeschafft werden.

Später war er am Wiederaufbau von Gebäuden der heutigen Uniklinik und dem Kraftwerk Mitte beteiligt und verlegte die Terrazzo-Platten in der Semperoper. Als er bei Arbeiten am Hauptbahnhof versehentlich in eine Leitung der Russen hackte, landete er wegen vermeintlicher Sabotage für fünf Tage im Keller der sowjetischen Kommandantur.

„Es war eine Knochenarbeit“, sagt er. „Es gab keine Maschinen und keine Fahrzeuge. Und wenn es Fahrzeuge gab, dann keinen Diesel.“ Überhaupt waren es Jahre voller Entbehrungen. „Sattgeworden bin ich nicht. Wir sind auf dem Land hamstern gegangen.“ Bei Bauarbeiten am Schlachthof klaute er sogar mal eine Salami, deponierte sie in einer Telefonzelle und bestellte seine Frau dort hin, um sie abzuholen.

Die harte Arbeit von damals merkt er noch heute im Kreuz. Eine Röntgenaufnahme von 1962 bescheinigt ihm eine starke Abnutzung der Lendenwirbel. Glücklicherweise wechselte er bald darauf an den Schreibtisch. 30 Jahre lang war er Bauleiter bei der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH).

Die junge Familie ergatterte eine Wohnung am Terrassenufer mit Blick auf die Elbe. Mehr als fünf Jahrzehnte wohnte Wolfgang Bilek dort, bis er 2013 in die Nähe des Pflegeheims seiner bereits schwer erkrankten Frau nach Johannstadt zog.

Hier lebt er nun allein, schläft früh gern lang und liest dann am Vormittag drei Stunden lang Zeitung. Geistig fit bleiben heißt die Devise. Ab und zu geht er heute ins Stadion zu Dynamo. „Verheiratet bin ich mit denen aber nicht. Die verlieren doch ständig.“ Das größte Glück bereitet ihm die Zeit mit seiner Familie. Seine Tochter holt ihn jedes Wochenende ab. Neulich waren sie gemeinsam in Holzhau spazieren. Wolfgang Bilek lief anderthalb Stunden mit. Ohne Gehhilfe. Die braucht er erst wieder in der Straßenbahn.