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„Guter Pop ist niemals einfach gestrickt“

Der Brite Steven Wilson schwärmt für ABBA, macht den Progrock massentauglich und beschert Dresden jetzt ein Konzert im Quadro-Sound.

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© PR

Der Londoner Daily Telegraph nannte Steven Wilson den „erfolgreichsten britischen Künstler, von dem Sie noch nie gehört haben“. Der 50-jährige Songschreiber, Produzent, Sänger und Multiinstrumentalist ließ zunächst mit seiner Band Porcupine Tree aufhorchen, arbeitete aber auch mit Progrock-Legenden wie King Crimson, Emerson Lake & Palmer und Marillion. Als Solist veröffentlichte er bisher ein halbes Dutzend Alben. Bevor er in Dresden sein 2017er-Werk „To The Bone“ präsentiert, spricht er im Interview über seinen speziellen Sound, Massen-Pop und darüber, warum er stets barfuß auftritt.

Auf Ihren Platten spielen Sie etliche Instrumente selbst, live überlassen Sie das Kollegen. Fällt es Ihnen schwer, die Kontrolle abzugeben?

Nein, denn glücklicherweise arbeite ich mit fantastischen Musikern zusammen, die die Stücke nicht einfach nur irgendwie spielen, sondern die meinen Stil exakt treffen können. Ich denke, das Schwierigste sind die Gitarrenpassagen, denn die meisten Gitarristen haben doch eine sehr eigene Art zu spielen, genau wie ich selbst. Also sind die Soli und alle Stellen, die mir besonders wichtig sind, auf der Bühne auch für mich reserviert.

Was ist Ihnen bei Ihrer Bühnenshow sonst noch wichtig?

Der Plan für die Show ist es, eine Reise in Musik und Bildern zu realisieren. Ich fühle mich dem Kino sehr verbunden und will daher das Konzert zu einer umfassenden audio-visuellen Erfahrung für das Publikum machen. Aus diesem Grund setze ich auf ein quadrophonisches Soundsystem – das heißt, die Musik kommt sowohl von hinter dem Publikum als auch von vorn. Das lässt die Leute förmlich eintauchen in die Musik.

Sie sind ja für Ihre Vorliebe für perfekten, fast schon bombastischen Sound bekannt. Doch wie bekommen Sie das bei einem Open-Air-Konzert hin?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Studiosound tatsächlich genau reproduzieren kann, weil der wirklich etwas episch ist. Doch das wird schon sehr voluminös, was wiederum auch mit der Qualität meiner Musiker zu tun hat. Und mit meinem Ton-Ingenieur Ian Bond, der mir seit 20 Jahren beisteht und meinen Sound besser versteht als jeder andere.

Ihre Musik haben Sie selbst oft als Pop bezeichnet. Wer in Deutschland etwas auf sich hält, setzt lieber ein Indie oder Alternative davor, um sich von der Radiomassenware abzugrenzen. Warum machen Sie das nicht?

Ich denke, bei diesen Leuten steckt nur musikalischer Snobismus dahinter, denn Pop ist schließlich nichts weiter als ein Synonym für populäre Musik – und welcher Musiker strebt denn nicht an, populär zu sein? Vor allem: Guter Pop ist niemals einfach gestrickt. Das haben die Beatles, für mich die größte Pop-Band aller Zeiten, bewiesen. Und jeder liebt die Beatles, nicht wahr? Die meiste Musik, von der wir denken, sie sei „alternativ“, ist nichts dergleichen. Sie gehört vielmehr zum Mainstream. Nirvana oder Oasis beispielsweise werden als „alternativ“ geführt, haben aber mehr Platten verkauft als viele Pop-Musiker und, nur am Rande, ich mag beide Bands. Aber ich habe mich auch nie dafür geschämt, große Pop-Musik zu lieben. Ich bin mit ABBA aufgewachsen, die ich so mochte wie später dann Pink Floyd. Und noch immer mag ich die Hits meiner Teenager-Zeit, egal, ob von Kate Bush, Tears for Fears, Depeche Mode, Prince – für mich ist das einfach guter Pop.

Was zeichnet Ihrer Meinung nach guten Pop prinzipiell aus?

Guter Pop ist etwas, das einzigartig und mit Ehrgeiz gemacht ist. Ich mag diese Einheitsbrei-Musik nicht, die klingt wie alles andere. Ich kann die meisten angesagten Pop-Sänger gar nicht voneinander unterscheiden. Da muss vielmehr etwas von einer starken Persönlichkeit mitschwingen. Wenn man sich Musik von den Beatles, den Beach Boys, David Bowie, Michael Jackson oder Prince anhört, dann ist das eindeutig Pop, aber dieser Pop geht eben nicht davon aus, dass das Publikum nur an banalen Melodien und simplen Texten interessiert ist. Popmusik ist in der Lage, mit recht ernsthaften und dunklen Themen umzugehen, wenn sie es will – und soll.

Würde es Sie freuen, wenn das Mainstream-Publikum ihre Musik entdecken würde, Sie beispielsweise einen Nummer-eins-Hit in Deutschland hätten?

Natürlich macht es die meisten Leute stolz, wenn sie mit ihrer Musik so viele Menschen wie möglich erreichen. Das hat gar nichts damit zu tun, Geld scheffeln oder berühmt sein zu wollen. Es ist eher die natürliche Konsequenz daraus, etwas zu tun, woran du glaubst, und das teilen zu wollen. Klar würde ich es lieben, ein millionenfach verkauftes Album zu haben. Alle Künstler, über die ich gerade geredet habe, taten das ja auch.

Sie haben mal gesagt, Pink Floyd hätten Sie extrem beeinflusst. Die hatten mit „Another Brick in the Wall“ 1979 einen Top-Hit. Warum ging das damals mit einem Progrock-Song und geht es heute eher nicht mehr?

Na ja, da muss ich zunächst sagen, dass für mich dieser Song nicht wirklich etwas von einem Progrock-Song hat, sondern vielmehr etwas von einem Disco-Beat. Aber nein, ich glaube auch nicht, dass eine Nummer wie diese derzeit ein Hit sein könnte. Das Massenradio ist dafür zu konservativ und zu durchformatiert. Bis dahin, dass alles, was ein bisschen schrullig klingt, sofort komplett ignoriert wird. Allein schon der Gedanke, dass ein Gitarren-Solo in einem modernen Pop-Song vorkommen könnte, ist irgendwie schräg. Und „Another Brick in the Wall“ hat ein großartiges Gitarren-Solo. Ja, ich vermisse die Zeit wirklich, als große Instrumentalisten die Pop-Musik prägten. Jetzt läuft alles über den Sänger und die Musiker stehen im Hintergrund. Oder es sind nicht mal mehr Musiker, sondern nur Klänge aus dem Computer.

Entmutigt Sie die musikalische Entwicklung der letzten Jahre oder fühlen Sie sich eher herausgefordert?

Ach, ich denke, es gibt da eine Menge faszinierender und ambitionierter experimenteller Musik. Was mich enttäuscht, ist aber, dass sie so völlig aus dem Mainstream verschwunden ist, von der breiten Masse nicht wahrgenommen wird. Da wäre es schon nett, würden Fernsehen, Radio und große Plattenläden diese Musik besser präsentieren. Es gibt brillante Sachen, nur muss man die leider etwas aufwendiger suchen.

Sie sind auf der Bühne stets barfuß – warum?

Ich war barfuß, seit ich denken kann. Als Kind bin ich immer mit Schuhen rumgerannt und kam mit blutenden Füßen heim zu meiner Mutter. Die musste mich trösten und verbinden. Von daher habe ich mich ohne Schuhe immer wohler gefühlt. Und auf der Bühne will ich mich eben auch wohl fühlen. Eine tiefere Bedeutung hat das ansonsten nicht.

Und wann genau ziehen Sie die Schuhe aus – schon im Hotel oder erst hinter der Bühne?

Üblicherweise in der Garderobe. Zur Bühne gehe ich dann in Slippern. Klingt sehr nach Rock ’n’ Roll, was?

Das Interview führte Andy Dallmann.

Das Dresden-Konzert: Steven Wilson spielt samt Band am 14. Juli ab 20 Uhr in der „Jungen Garde“. Karten für das Konzert gibt es in allen SZ-Treffpunkten sowie unter 0351 48642002.