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„Gerichte achten aufs Rechtsempfinden der Bürger“

Bautzens Amtsgerichtschef Markus Kadenbach zur Kritik an der deutschen Justiz im Fall Sami A.

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© Steffen Unger

Von Jens Fritzsche

Natürlich wurde das Thema auch an den Stammtischen zwischen Bautzen und Radeberg hitzig diskutiert: Der Ex-Leibwächter von Al-Qaida-Chef Osama bin Laden muss nach Deutschland zurückgeholt werden. Das entschied das Oberverwaltungsgericht in Münster; und sorgte damit für reichlich Aufsehen. Auch bei Herbert Reul, dem Innenminister Nordrhein-Westfalens. Der schimpfte daraufhin, Richter müssten bei ihren Entscheidungen wieder mehr auf das Rechtsempfinden der Bürger achten.

Sami A. war als islamistischer Gefährder nach Tunesien abgeschoben worden. Doch dort drohe ihm Folter, deshalb sei die Abschiebung rechtswidrig, so die Richter. Reuls Kritik an dieser Entscheidung sei jedenfalls „eine ganz gefährliche Attacke auf unseren Rechtsstaat“, machte der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, daraufhin seinem Ärger Luft. Ist das so? Wie sieht das zum Beispiel der Direktor des Amtsgerichts in Bautzen, Markus Kadenbach? Die SZ sprach mit ihm.

Herr Kadenbach, hat es Sie überrascht, dass sich ein Minister quasi in Ihre Arbeit einmischt?

Nein. Dass Politiker als Mandatsträger oder als Regierungsmitglieder Urteilsschelte betreiben, ist nicht so außergewöhnlich. Öffentlich geäußerte Kritik an richterlichen Entscheidungen, welche die eigenen Erwartungen des jeweiligen Politikers und – dies mag die eigentliche Motivation sein – die tatsächlichen oder vermuteten Erwartungen seiner Wählerschaft enttäuschen, ist legitimer Bestandteil des politischen Meinungswettstreits. Das erschüttert weder den Rechtsstaat noch das Prinzip der Gewaltenteilung. Es gibt sogar Stimmen in der Rechtswissenschaft, die die Zulässigkeit parlamentarischer und amtlicher Kritik als notwendiges Korrektiv zur richterlichen Unabhängigkeit begreifen.

Wie wird die Diskussion in Ihrem Kollegenkreis in Bautzen aufgenommen?

Ich denke, mit dem Maß an Gelassenheit und Zurückhaltung, das die richterliche Unabhängigkeit den Kollegen gebietet. Andere aktuelle Themen beschäftigen sie mehr. So hat beispielsweise das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli über den Richtervorbehalt bei Fixierungen von untergebrachten Patienten größeren Widerhall im Kollegenkreis gefunden.

Hat der Minister aus Ihrer Sicht sogar Recht: Müssten Gerichte die Spielräume in den Paragrafen auch mit Blick auf das Volksempfinden ausloten?

Das sogenannte Rechtsempfinden der Bevölkerung ist der Rechtsprechung ja nicht fremd. So darf beispielsweise in einer Strafsache bei Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten die Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn das –  so sagt der Bundesgerichtshof – von der Allgemeinheit als ungerechtfertigtes Zurückweichen vor der Kriminalität angesehen werden könnte. Insoweit haben die Strafgerichte sich also sehr wohl vor Augen zu führen, wie ihre Entscheidungen in der öffentlichen Diskussion aufgenommen werden.

Das Thema an sich ist ja nicht neu, immer wieder ist zu hören, die Urteile seien nicht hart genug, es werde viel zu viel Rücksicht auf die Lebensumstände der Täter genommen. Haben Sie solche Dinge bei Ihrer Arbeit am Bautzener Amtsgericht im Hinterkopf?

Die Grundsätze der Strafzumessung sind gesetzlich vorgegeben. Die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, sind gegeneinander abzuwägen. Zu diesen Umständen gehören etwa die Gesinnung, die aus der Tat spricht, auch die Art der Ausführung. Aber ebenso das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Der Richter hat unter Berücksichtigung dieser Umstände eine Strafe zu verhängen, welche auf die Straftat und den Täter ganz konkret zugeschnitten ist. Dies kann dazu führen, dass der Richter – auch und gerade im Licht der öffentlichen Anteilnahme an einem Strafprozess – den Schwerpunkt auf die Sühne des geschehenen Unrechts oder die Abschreckung potenzieller Nachahmer legt.

Was sagen Sie Leuten, die Ihnen zum Beispiel „Kuscheljustiz“ vorwerfen?

Der Richter entscheidet über die Strafzumessung zwar unabhängig, aber seine Entscheidung unterliegt der Nachkontrolle. Insoweit ist es originäre Aufgabe der Staatsanwaltschaft, mit objektivem Blick darüber zu wachen, dass die vom Gericht verhängte Strafe schuldangemessen ist. Hält die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung für zu milde – oder für zu streng –, kann und muss sie Rechtsmittel einlegen. Das findet in der Praxis auch regelmäßig statt. Dann prüft ein höheres Gericht, ob die Vorinstanz dem Verurteilten „ein falsches Signal“ gegeben hat.

… und kritische Stimmen aus der Bevölkerung zum Strafmaß?

Ich halte es – übrigens nicht nur bei der Auseinandersetzung mit Gerichtsurteilen – für ein Gebot der Fairness, dass man sich zunächst über die Einzelheiten des zugrunde liegenden Sachverhalts informiert, bevor man die Entscheidung eines anderen kritisiert. Rechtsfälle sind häufig sehr komplex, und der Ausgang eines Prozesses hängt nicht selten von ganz bestimmten Details ab. Mit diesen muss man sich zunächst befassen, wenn die Kritik an der getroffenen Entscheidung fundiert sein soll.

Macht die Diskussion vielleicht auch deutlich, dass die Justiz unter Umständen ihre Urteile oder ihre Arbeit generell besser erklären müsste?

Das trifft sicherlich zu. Lange Zeit hat die Justiz im Umgang mit der Öffentlichkeit den Grundsatz verfolgt, dass der Richter durch seine Urteile, nicht jedoch über seine Urteile spricht. Zwischenzeitlich haben die Gerichtsverwaltungen erkannt, dass gerichtliche Entscheidungen der interessierten Öffentlichkeit erläutert werden müssen. Hier muss nach meinem Dafürhalten aber noch mehr geleistet werden.

Welche Wege gebe es aus Ihrer Sicht, der Bevölkerung das Rechtssystem näherzubringen?

Dem Umstand, dass in allen Arten von Medien regelmäßig über das Justizwesen und einzelne Rechtsfälle berichtet wird, sowie Rechtsratgeber-Rubriken eingerichtet sind, entnehme ich, dass das Interesse der Bevölkerung an juristischen Themen groß ist. Daher ist es wichtig, dass die Gerichte aufgeschlossen dafür sind, Informationen aus erster Hand zu erteilen. Selbstverständlich ist das Wissen darüber, wie unser Rechtsstaat funktioniert und welche Bedeutung die Rechtsstaatlichkeit für den Bestand unseres Gemeinwesens hat, auch notwendiger Bestandteil der Allgemeinbildung.

… also auch ein Thema für die Schule?

Richtig, und diese Themen werden ja auch bereits im Fach Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung behandelt. Das Recht ist es aber allemal wert, diese Anstrengungen an den Schulen zu verstärken.

Werden Sie sich an „die Politik“ wenden, um das Thema noch einmal zu diskutieren?

Einfluss auf den Gesetzgeber und die Verwaltung üben die Gerichte mittels ihrer Rechtsprechung aus. Darüber hinaus ist es aus den vorgenannten Gründen wichtig, dass die Gerichte über ihre Tätigkeit der Öffentlichkeit Rede und Antwort stehen. In diesem Rahmen können die Gerichte auch auf an ihren Entscheidungen geübte amtliche oder parlamentarische Kritik reagieren, wenn sie diese der Sache oder der Form nach für unberechtigt halten. Nach dieser Richtschnur verfahre ich.