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Gas geben und Maß halten

Kellnern beim Pichmännel-Oktoberfest ist eine Herausforderung für Körper und Geist. Johanna tanzt einfach mit.

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© Christian Juppe

Von Henry Berndt

Na komm, einmal geht noch: „Hodi odi ohh di ho di eeeeeeh“. Der Kracher von Andreas Gabalier läuft zum dritten Mal an diesem Abend. Wer da nicht mitgrölt, der hat zu wenig getrunken. Oder zu viel.

Das Zelt vom Pichmännel Oktoberfest im Ostragehege ist rappelvoll, wie jeden Abend. Die Männer tragen Lederhose und kariertes Hemd, die Frauen Dirndl. Da soll noch mal jemand sagen, die Sachsen könnten nichts mit bayrischer Kultur anfangen!

Mittendrin im Getümmel bahnen sich junge Damen und Herren mit gigantischen Tabletts voller Haxen und Würstchen oder zehn Maß Bier in zwei Händen den Weg dort entlang, wo eigentlich gar kein Weg ist. Wo keine Bänke und Tische stehen, da wird seit dem späten Nachmittag getanzt.

Und trotzdem schaffen es Johanna und ihre Kellnerkollegen irgendwie, hier unfallfrei ihren Job zu machen. Dabei versprühen sie auch noch gute Laune – oder tun sie etwa nur so? „Nein, wir haben wirklich Spaß“, sagt Johanna Auguste Tamme und lächelt. Auf einem ihrer Zähne funkelt dabei ein Steinchen – eine Jugendsünde aus einer Zeit, als sie noch keine Piercings tragen durfte. Inzwischen darf sie und hat eins in der Nase. Die 26-Jährige ist in diesem Jahr zum ersten Mal im Pichmännel-Zelt dabei. Über eine Agentur ließ sich die Coswigerin zum Team von W.O.K. vermitteln, die das Catering beim Dresdner Wies’n-Fest in den Händen haben. Deren wichtigste Kriterien für das Personal: Zuverlässigkeit, Stressresistenz und Fitness.

Keine Frage, einen Abend hier im Zelt kellnern ersetzt mindestens einen Besuch im Fitnessstudio. Johanna wusste, worauf sie sich da eingelassen hat. Sie war schon im München auf dem Oktoberfest und befürchtete auch hier das Schlimmste. „Ich dachte, hier gibt es nur Schnapsleichen, war dann aber doch positiv überrascht.“ Die meisten Pichmännel-Besucher würden zwar zünftig bechern und singen, seien aber in der absoluten Mehrheit respektvoll und einfach gut drauf.

„Bei den Leuten gibt es die ganze Spannweite“, sagt sie. „Manche wollen mich gleich mit nach Hause nehmen, und andere lassen sich noch die letzten zehn Cent für die Maß auszahlen.“ Mit beidem kann sie leben, auch eine euphorische Umarmung und ein Bussi sind mal okay – mehr dann aber bitte nicht. Die Toleranzgrenze ist hier jedem selbst überlassen, sagt ihr Chef Andreas Wünsche. Und wer kein „Nein“ versteht, der ist schneller draußen, als er gucken kann.

An ihren ersten Abenden hier hatte Johanna noch keine derartigen Probleme. Überhaupt hat sie schnell gut in einen Job gefunden. „Die erfahrenen Kolleginnen haben uns am Anfang an die Hand genommen“, sagt sie. „Die Stimmung ist super. Manchmal tanzen wir sogar zusammen.“ Insgesamt arbeiten 120 Kellnerinnen für das Fest. Jeden Tag werden die Teams neu aufgeteilt. Heute ist Johanna für vier Tische zuständig, die nah an der Küche stehen. Ein kleiner Vorteil. Das wird aber morgen schon wieder ganz anders sein.

Mit flinken Schritten eilt sie durch das Zelt. Von 18 bis 20 Uhr ist der Stresspegel am Maximum. Alle wollen trinken. Alle wollen essen. Das poetisch wertvolle Lied „Von vorne, nach hinten, von links nach rechts“ von Ballermann-Held Mickie Krause passt dazu ganz gut.

Musikalisch ist das hier alles gar nicht Johannas Welt. Privat hört sie gar nichts zum Mitsingen, stattdessen fast ausschließlich Elektro. Doch einige der Titel sind so stumpf, dass sie direkt in Johannas Hirn vordringen, und sie unweigerlich mitsummen muss. Ganz schlimm zum Beispiel: „Allee Allee, Allee Allee, Allee, eine Straße, viele Bäume, ja das ist eine Allee.“

Wenn sie sich nach Dienstschluss ins Auto setzt, braucht sie dann dringend einen anderen Sound aus dem Radio. Spätestens zu Hause im Bett sind die Ohrwürmer dann meist besiegt, und es bleibt nur ein monotones Fiepen in den Ohren.

Am nächsten Morgen ist dann höchstens mal die Stimme weg – so wie bei Johanna nach dem ersten Festwochenende. Zum Glück machte das Pichmännel da aber sowieso Pause, sodass sie am Mittwoch wieder fit zum Dienst antreten konnte. Zur Not hätte sie sich aber auch durch eine Trillerpfeife bemerkbar machen können, wie einige ihrer Kolleginnen.

W.O.K.-Chef Andreas Wünsche weiß, dass die Belastbarkeit seiner Mitarbeiter im Laufe der zwei Wochen zwangsläufig nachlassen wird. Lautstärke, Hitze und Raucherpausen in der Kälte werden ihren Tribut fordern. Johanna hält bislang durch.

Eine Ausbildung zur Kellnerin hat sie nie gemacht – sonst aber schon eine ganze Menge probiert. Ursprünglich arbeitete sie als Produktgestalterin für Textilien. Irgendwann wollte sie da raus, ging ein Jahr nach Neuseeland. Danach holte sie in Deutschland ihr Abitur nach, arbeitete in Bars, im Ikea und als Hostess. Und jetzt? Jetzt ist sie auf dem Sprung nach Australien. Das Geld für den Hinflug hat sie zusammen – auch dank Pichmännel. Wann und ob sie überhaupt zurückkommt, weiß sie noch nicht.