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Feierabend für Grenzlandmusikanten

Nach 50 Jahren hat sich das beliebte Blasorchester zur Waltersdorfer Kirmes für immer vom Publikum verabschiedet.

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© Matthias Weber

Von Bernd Dressler

Waltersdorf. Der Kretschamsaal in Waltersdorf war rappelvoll zur Kirmes am 14. Oktober. Die Grenzlandmusikanten spielten auf, Stimmung und gute Laune waren garantiert. Doch als das Finale heranrückte, so gegen 17 Uhr an jenem Sonntag, da gab es ein Innehalten. Viele im Publikum wurden nachdenklich, einigen standen Tränen in den Augen: Die Musiker spielten das Feierabendlied. Der unwiderruflich letzte Auftritt eines seit 50 Jahren bestehenden populären Blasorchesters, dessen Mitglieder fast ausschließlich aus den Altkreisen Löbau und Zittau kommen, näherte sich seinem Ende.

Wolfgang Jährig leitete bis 2003 den Klangkörper.
Wolfgang Jährig leitete bis 2003 den Klangkörper. © Sammlung Thomas Rösch
Eine Aufnahme aus den 1970er Jahren: 16 Musiker zählte der Klangkörper, der zu dieser Zeit noch „Grenzlandblasorchester“ hieß.
Eine Aufnahme aus den 1970er Jahren: 16 Musiker zählte der Klangkörper, der zu dieser Zeit noch „Grenzlandblasorchester“ hieß. © Sammlung Thomas Rösch

Warum dieser vielleicht für manche überraschende Abtritt von der Bühne? Werner Kretschmer aus Eibau, der Mann an der Tuba, hat es auf einem kleinen Zettel ausgerechnet: „Durchschnittsalter 65,3 Jahre“, steht da. Und hinter jedem Musiker der aktuellen Besetzung ist das Alter vermerkt, der Älteste ist 89, der Jüngste 46. Zusammen kam das Ensemble zuletzt auf 718 Lebensjahre! „Es fehlt der Nachwuchs“, sagt der 75-jährige Kretschmer, der zu den Dienstältesten gehört. Wenn jemand wegen plötzlicher Krankheit ganz kurzfristig absagen müsse, wie zur Waltersdorfer Kirmes geschehen, dann werde es eng. Kapellenchef Helmar Loose aus Ruppersdorf musste binnen drei Stunden Ersatz finden. Es werde immer schwerer, Spieler zu bekommen, die bei ansprechender Qualität dem Musikstil der Grenzlandmusikanten entsprächen, mit böhmischer Blasmusik als Vorbild.

Der Qualitätsanspruch des Klangkörpers erschließt sich aus der Historie. So waren am Anfang Berufsmusiker des Sorbischen Nationalensembles dabei, auch ehemalige Musiker des Zittauer Stadttheaters. Mit den Brüdern Joachim und Günter Gocht aus Leutersdorf kamen zeitweise gestandene Orchesterleiter hinzu. Günter, mit mittlerweile 80 der Jüngere der beiden, hat sich bei den Grenzlandmusikanten zudem als Arrangeur verdient gemacht und unermüdlich Partituren geschrieben.

Werner Kretschmer hat viel Chronikmaterial gesammelt, das die Erfolgsgeschichte des Ensembles belegt. Ein Auftritt auf dem Großschönauer Hutberg am 1. Juni 1968 gilt als Geburtsstunde. Als „Grenzlandblasorchester“ unter Leitung von Wolfgang Jährig am Schlagzeug spielten an jenem Pfingstmontag 25 Musiker auf. Bis auf wenige Ausnahmen war dieser Termin in Großschönau 50 Jahre lang gesetzt, bis hin zum runden Geburtstag in diesem Sommer. Feste, wiederkehrende Termine hatten die Blasmusiker noch mehr, so von 1975 bis 2018 bei der Dittelsdorfer Kirmes oder bei der Bierzeltgemeinschaft in Cunewalde, wo sie 30 Jahre den Frühschoppen bestritten. Und auch außerhalb der Oberlausitz waren die „Grenzländer“ unterwegs, zum Beispiel zu DDR-Zeiten in Bad Liebenwerda oder in Halberstadt. Und natürlich fehlten sie im Fernsehen bei Hans-Georg Ponesky nicht. Nach der Wende gab es Gastspiele in Gießen, Neunkirchen, auf der Grünen Woche in Berlin oder in Landeck in Tirol. Überall gefielen die Darbietungen des reinen Männerorchesters, gewürzt mit viel Witz und Humor und auch Gesangstiteln. Die Sänger kamen immer aus den Reihen der Trompeter. Fast schon legendär wurde in jüngerer Zeit das Bill-Ramsey-Medley des ältesten Ensemblemitglieds Werner Jähne aus Oybin. Und überall sicherte sich ein treuer Fananhang, ja sogar ein eigener Fanclub, lange vor Beginn einer Veranstaltung die besten Plätze.

Eine Zäsur gab es im Jahre 2004. Nachdem der Leutersdorfer Wolfgang Jährig aus gesundheitlichen Gründen die Leitung niedergelegt hatte, übernahm der Trompeter Helmar Loose aus Ruppersdorf. Und aus dem „Grenzlandblasorchester“ wurden die „Grenzlandmusikanten“, womit der neue Name dem inzwischen zugenommenen Musikerschwund Rechnung trug. Auch die Zahl der Auftritte war mittlerweile erheblich zurückgegangen. Standen bis zum Ende der DDR bis zu 120 Auftritte im Jahr im Terminkalender, weil Organisatoren von Betriebsvergnügen, Faschingsclubs oder Urlauberorte des FDGB sie gern buchten, so waren es zuletzt nur noch 15 Konzerte pro Jahr.

Beim allerletzten Auftritt bei der Kirmes in Waltersdorf durften die Musiker selbstverständlich nicht ohne Zugaben von der Bühne. Mit lautstarkem Beifall forderte sie das Publikum ein. Und die Grenzlandmusikanten ließen sich nicht bitten. Sie spielten das, was sie 50 Jahre lang immer besonders gepflegt hatten: populäre, schmissige Marschklassiker. „Ja“, sagt Helmar Loose, „das Aufhören ist uns nicht leicht gefallen.“ Und Werner Kretschmer ergänzt: „Besser, wir verabschieden uns auf dem Höhepunkt unserer Leistungen, als wenn sich unser Publikum kritisch von uns abwenden würde.“

Trotzdem dürfte man dem einen oder anderen „Grenzländer“ wiederbegegnen, egal, ob in einer kleinen Besetzung oder in einer anderen Formation.