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Es war einmal in Lettland

Zweimal wurde Karin Zoepffel aus Ihrem Zuhause vertrieben. Mit 99 Jahren schaut sie dennoch lieber zurück.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Das mächtige Buch kann sie allein kaum halten. „Meine Lebensgeschichte“, steht auf dem Deckel. Ihre Kinder und Enkel haben es Karin Zoepffel zum 90. Geburtstag geschenkt. Viele der Erinnerungen, die auf diesen 350 Seiten zu lesen sind, hat sie vor vielen Jahren einmal selbst auf ihrer Erika-Schreibmaschine zu Papier gebracht. Sie werden bleiben, auch wenn Karin Zoepffel einmal nicht mehr da sein wird. Zum Glück. Denn erzählt hat Mutter sonst nie sonderlich viel, wie ihre Tochter Brigitte Seefeld sagt.

1944 heiratete Karin Zoepffel ihren Mann Erich noch in Posen.
1944 heiratete Karin Zoepffel ihren Mann Erich noch in Posen.
Ihr Töchterchen Brigitte kam ein Jahr später in Langebrück zur Welt.
Ihr Töchterchen Brigitte kam ein Jahr später in Langebrück zur Welt.

An diesem Mittwoch wird Karin Zoepffel 99 Jahre alt. Das Ziel wird damit klar, doch die ganz große Vorfreude lässt sich die schmale Dame mit den wackligen Knien und dem wachen Geist nicht mehr entlocken. „Alle meine Freunde und Bekannten sind gestorben. Nur ich muss noch leben.“ Dabei lächelt sie immerhin ein bisschen. Sie weiß: Das Leben macht sowieso mit ihr, was es will. Schon immer.

In ihrer kleinen Wohnung im ersten Stock in der Altstadt lebt sie noch allein, macht sich Frühstück und Mittagessen. Morgens kommt der Pfleger von der Caritas. Dreimal in der Woche hilft ihr ihre Tochter durch den Tag. Noch bis vor wenigen Monaten begleitete die 72-Jährige ihre Mutter auch nach unten auf die Straße. „Der Besuch beim Frisör war das Allerwichtigste für sie.“ Doch seit einem Sturz in der Wohnung traut sich Karin Zoepffel nicht mehr die Stufen hinunter. Frische Luft atmet sie nur noch auf dem Balkon. Auch Weihnachten blieb sie zu Hause. Einer ihrer Enkel hat ihr im Flur eine Haltestange angebracht, mit der sie sich unfallfrei von der Küche ins Bad hangeln kann. Nun machen der Familie nur noch die Türschwellen Sorgen, die laut Vermieter aber drinbleiben müssen. Kaum zu glauben, aber erst vor sieben Jahren bekam Karin Zoepffel überhaupt einen Rollator. „Dabei habe ich nie Sport gemacht, das muss ich ehrlich zugeben“, sagt sie und lacht. Ein Geheimnis ihres langen Lebens kennt sie nicht.

Begonnen hat dieses Leben am 31. Januar 1919 in der lettischen Hauptstadt Riga. Erst wenige Wochen zuvor war Lettland unabhängig worden. Als lettische Staatsbürgerin deutscher Nationalität verbrachte Karin Trühl, wie sie damals noch hieß, ihre Kindheit in einer grünen Idylle. Am liebsten erinnert sich an einen großen Schützengarten, in dem mit ihren Puppen spielte. „Dort gab es so lauschige Eckchen“, sagt sie. „Sonntags spielte dort oft eine Kapelle.“

Als sie zusammen mit ihrer Tochter 1988 nach langen Mühen an diesen Ort zurückkehren konnte, war Karin Zoepffel entsetzt, was aus ihrem Schützengarten geworden war. „Das war jetzt ein richtiger großer Platz.“ Nichts erinnerte sie mehr an ihre glücklichen Kinder- und Jugendtage, die am 6. Oktober 1939 ein jähes Ende gefunden hatten. An jenem Tag erfuhr ihre Familie, dass sie Lettland verlassen mussten. Im Hitler-Stalin-Pakt hatte Hitler das Gebiet den Russen überlassen. Vier Wochen später brachte sie ein Schiff in ein fremdes Land. Sie wurden nach Posen ins heutige Polen umgesiedelt. Als junge Frau habe sie das ganz gut verkraftet, sagt Karin Zoepffel. „Für meine Eltern war es viel schwerer, alles zurückzulassen.“

Von nun an lebten sie als deutsche Staatsbürger in Posen. Karin Zoepffel lernte Steno und Schreibmaschine. Im November 1944 heiratete sie ihren Erich. Gerade als die Familie anfing, sich in ihrem neuen Leben einzurichten, musste sie wieder fliehen. Am 20. Januar 1945, einem Sonnabend, arbeitete Karin Zoepffel noch bis Mittag, ging dann zu ihren Eltern mittagessen. „Auf einmal hieß es, Posen müsse innerhalb von zwei Stunden verlassen werden“, erinnert sie sich. „Der Bahnhof sei voll mit Menschenmassen.“ Ein Arbeitskollege ihres Vaters habe ihre Familie schließlich in einem offenen Pferdewagen mitgenommen. Es war eine Fahrt ins Ungewisse bei minus 10 Grad. Karin Zoepffel trug ihre beiden Mäntel übereinander, um sich und ihr ungeborenes Kind zu schützen. Über Berlin kam die Familie am 31. Januar 1945 nach Dresden und bezog eine Wohnung in der Borsbergstraße.

Als nur zwei Wochen später die Sirenen ertönten, nahmen sie das zunächst nicht ernst. „Niemand ist runtergegangen“, sagt sie. Erst, als die Meldung im Radio kam, dass Bomber in Anflug auf Dresden seien, flüchteten sie in den Keller. Ihr Haus wurde als eines der wenigen nicht getroffen und steht bis heute. Dennoch kam die Familie übers Blaue Wunder nach Langebrück – und blieb dort. Da ihr Vater Russisch sprach, konnte er bei der Organisation der Gemeinde helfen. Im Gegenzug bekamen sie eine fast luxuriöse Wohnung, in der zuvor eine Nazi-Größe gelebt hatte.

Kurz vor der Entbindung ihrer Tochter Brigitte ging Karin Zoepffel zum ersten Mal zum Frauenarzt. Wieder baute sie sich ein neues Leben auf. Aus Riga waren ihr nur ein paar Silberlöffel geblieben. Sie arbeitete nun als Sekretärin in der Poliklinik, erst in Radeberg, später in Langebrück. Ihr Erich starb 1974. Das weiß sie sofort. Bis heute hat Karin Zoepffel ein beeindruckendes Zahlengedächtnis. „Bei Geburtstagen frage ich immer sie“, sagt ihre Tochter Brigitte.

In ihrer neuen Wohnung in der Altstadt hat Karin Zoepffel alles, was sie braucht – außer Gesundheit. Ihre Augen lassen sie kaum noch lesen. Beim Fernsehen brennen sie. Über ihre kleinen Urenkel freut sie sich zwar, „aber die sind mir ein bisschen zu lebhaft“. Sie habe ein langes und glückliches Leben gehabt, sagt sie schließlich, „aber warum muss man so alt werden?“