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Es bleiben zu viele Zweifel

Von Dresden aus steuert Irma Slowik eine Kampagne, um ihren Bruder Josef in Wien aus dem Gefängnis zu holen.

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© André Wirsig

Von Alexander Schneider

Irma Slowik hat in den letzten vier Monaten sehr viel gelernt. Über Freunde, Mitgefühl und Solidarität etwa, über die Ohnmacht vor einem überstarken Staat und die Angst zu verlieren. Das hat wenig mit Naturwissenschaften zu tun oder dem orangefarbenen Spektrum ihres Lasers, an dem Irma Slowik forscht. Die Physikerin aus Jena promoviert gerade an der TU Dresden. Doch seit ihr Bruder Josef in Wien in Untersuchungshaft sitzt, ist auch ihre Welt aus den Fugen.

In vier Monaten wurde die 26-Jährige zur Expertin für Strafrecht und politische Kampagnen. Sie betreibt eine Internetseite, um ihre Mitstreiter auf dem Laufenden zu halten. Sie bastelt Aufnäher, besprüht Klamotten mit „Freiheit für Josef“ als sichtbares Zeichen der Solidarität. Und sie ist ständig unterwegs. Zwischen Jena, Wien und ihrer WG in der Johannstadt kämpft Irma Slowik für ihren kleinen Bruder.

Am 24. Januar hat der 23-Jährige gegen den „Wiener Akademikerball“ der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) demonstriert. Es gibt stets Proteste gegen den als europaweites Nazi-Treffen kritisierten Ball. Er ist für Wien, was der 13. Februar für Dresden ist – ein festes Datum im jährlichen Protest-Kalender. Tausende demonstrierten friedlich in der Wiener Innenstadt, doch es wüteten auch gewaltbereite Autonome. Die Extremisten haben eine Polizeiwache und Geschäfte verwüstet, Polizeiautos demoliert und Menschen verletzt. Die Uniformierten setzten Tränengas ein, aber waren wohl ziemlich überfordert, die Krawallos unter Kontrolle zu halten. Nur 14 Verdächtige wurden festgenommen. Bis auf Josef waren alle kurz darauf wieder in Freiheit. Josef landete als Einziger in Untersuchungshaft. Ein tatverdächtiger Ausländer ohne festen Wohnsitz – mit einem Österreicher würde man hier wohl auch so umgehen. Doch als Haftgrund nannten die Behörden nicht Fluchtgefahr, sondern „Tatbegehungsgefahr“, hierzulande würde man Wiederholungsgefahr dazu sagen.

Tiefpunkt im Kampf um Unschuld

Morgen endlich beginnt Josefs Prozess vor dem Landesgericht Wien. Körperverletzung, Sachbeschädigung und Landfriedensbruch werden dem 23-Jährigen vorgeworfen. Bei den Ausschreitungen soll er ein Rädelsführer gewesen sein. Josef, ein Rädelsführer? Seine Schwester Irma würde am liebsten laut lachen. Doch die Sache ist ihr viel zu ernst. Die Wiener Justiz habe in den letzten vier Monaten gezeigt, dass mit ihr nicht zu spaßen ist.

Irma Slowik fürchtet, an ihrem Bruder soll ein Exempel statuiert werden. Davon ist sie seit dem 9. Mai überzeugt. Bei jener dritten Haftprüfung habe die Justiz Josef erneut nicht entlassen, obwohl es der Verteidigung gelungen sei, einen der wenigen objektiven Beweise zu entkräften. Ein Stimmgutachten ergab, dass Josef nicht derjenige ist, der auf einem Tonbandmitschnitt zu hören ist, wie er die Massen aufwiegelt.

Der 9. Mai war für Josefs ganze Familie der Tiefpunkt im Kampf um seine Unschuld. Er stammt aus gut situierten Verhältnissen in Jena, die Eltern Ingenieure, der große Bruder Physiklehrer, die Schwester Doktorandin. Josef studiert Materialwissenschaften. Irma und er gehen seit Jahren gerne demonstrieren, vor allem gegen Nazis, die in Jena jährlich das „Fest der Völker“ veranstaltet hatten, ehe ihnen der gesellschaftliche Gegenwind zu groß wurde.

„Wer Josef kennt, weiß, wie absurd das alles ist“, sagt Schwester Irma. „Mein Bruder ist Vegetarier, er raucht nicht, er trinkt keinen Alkohol und er geht auf keine Partys.“ Er ist knapp zwei Meter groß und sehr schlank. Als Josef vor eineinhalb Jahren in Jena von zwei betrunkenen Räubern überfallen wurde, habe er sich nicht aktiv gegen die Schläger gewehrt, sondern sie bei der Polizei angezeigt. „Wer mit Gewalt kein Problem hat, hätte da doch anders reagiert“ – Irma begründet jeden ihrer Zweifel gut. Sie ist mehr als eine aufgeregte große Schwester. „Josef hat keine Berührungsängste mit der Polizei“, sagt Irma. Er war schon sehr oft demonstrieren und sei dabei nie negativ aufgefallen.

Möglicherweise war er aber zu nahe an den Brennpunkten und geriet so ins Visier der Polizei. Josef engagiert sich bei den „Falken“, einer sozialistischen Jugendorganisation. Nach Wien fuhr er mit Freunden. Dort trug er einen schwarzen Kapuzenpullover, auf dessen Rücken groß „BOYKOTT“ in weißen Buchstaben zu lesen ist. Der Name eines Rappers. „Wer macht denn in einem so auffälligen Pullover Krawall?“, fragt die Schwester nun. Wieder so ein Punkt, der sie zum Widerspruch zwingt. Es gebe keine Videobilder, auf denen Josef zu erkennen sei. Doch die Ankläger hätten die Sache einfach umgedreht: Die markante Jacke sei Absicht, sie unterstreiche seine Anführerrolle. Solche Taschenspielertricks rauben Irma Slowik, der Naturwissenschaftlerin, den Glauben an ein faires Verfahren. „Ich mach‘ mir wirklich Sorgen um Josefs Zukunft.“ Ihm drohten bis zu drei Jahre Haft. Ganz zu schweigen davon, was aus seinem Studium wird.

Demo für die Freiheit

Jetzt hofft Irma, dass sich Videos finden, die belegen, dass Josef eben nicht der Anführer ist. Das Video-Problem erinnert an den Mitte 2013 ausgesetzten Prozess gegen den Jenaer Stadtjugendpfarrer Lothar König am Amtsgericht Dresden, dem vorgeworfen wird, am 19. Februar 2011 in Dresden einen Landfriedensbruch begangen zu haben. Irma Slowik hatte den Prozess sogar besucht: „Als Jenaerin musste das sein.“

Mit dem zotteligen Pfarrer und seiner „Jungen Gemeinde“ hatten die Slowiks in Jena zwar nie etwas zu tun. Doch nun hilft ihnen der Pfarrer und sein Netzwerk. Tochter Katharina König, Landtagsabgeordnete der Linken, vermittelte Kontakte zur Politik – dem Oppositionsführer im Erfurter Landtag, Bodo Ramelow, oder Gregor Gysi in Berlin. Auch Jenas Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD) unterstützt die Kampagne für Josef.

Das Gefühl, nicht alleine zu sein im Engagement für Josef, macht das ohnmächtige Gefühl erträglicher. Auch wenn die Entscheidung über Josefs Schicksal in Wien fällt. Vielleicht schon morgen. Irma Slowik nimmt heute den Nachtzug. Morgen steht sie mit ihren bedruckten Stoff-Aufnähern, Flyern und vielen Mitstreitern vor dem Landesgericht. Sie hat dort eine Demo vorbereitet. Auch das erinnert an den Prozess gegen den Jenaer Pfarrer.

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