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Erinnerungen an einen besonderen Urlaub

Im August 1968 fuhr die Heidenauerin Heidemarie Tiebel das erste Mal in die Hohe Tatra. Als sie wiederkam, hatte sie Weltgeschichte miterlebt.

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© Norbert Millauer

Von Heike Sabel

Heidenau. Im Sommer 1968 war Heidemarie Tiebel 15 Jahre und aufgeregt. Ihre erste Reise mit der Sportgruppe in die Hohe Tatra stand bevor. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei hatten die Teilnehmer im Vorfeld der Reise beunruhigt. Vor allem befürchteten sie, kein Einreisevisum zu erhalten. Aber es ging alles gut. Gemeinsam mit den tschechischen Sportfreunden aus Jablonec nad Nisou verbrachten Heidemarie Tiebel und ihre Freunde wunderbare Wander- und Bergsteigertage in einem Zeltlager in Tatranska Lomnica. Sprachbarrieren gab es keine, erinnert sich die Heidenauerin. Einige der Älteren sprachen Deutsch, die Jungen verständigten sich recht und schlecht mit ihrem Schulrussisch bzw. Händen und Füßen. Ohne Telefon, Fernseher und Radio lebten sie drei Wochen ihren Sport und hatten keine Ahnung von den Ereignissen in der Welt. Bis zum 21. August.

Was an diesem Tag passierte, hat Heidemarie Tiebel damals in ihrem Reisetagebuch festgehalten. Jetzt hat sie es wieder rausgeholt und liest: „Am Morgen weckten uns laute Stimmen vor den Zelten. Instinktiv wussten wir, hier stimmt was nicht, und im Nu waren wir draußen auf dem Platz“, liest Heidemarie Tiebel. „Die Russen stehen 100 Kilometer vor Poprad“, sagte plötzlich einer, und dann sahen und hörten wir es auch schon: Unten im Tal, auf der Straße, rollten Panzer und Lastwagen, begleitet von Hubschraubern, die weite Kreise zogen, auch über unser Lager hinweg.“ Die jungen Leute fragten sich, was passiert sei, wer könnte ihnen etwas sagen?

Ein Radio wäre willkommen gewesen, aber sie kamen an keines heran. Stattdessen wurden sie von den gleichaltrigen Tschechen, mit denen sie am Vorabend noch am Lagerfeuer gesessen und gesungen hatten, als „Faschisten“ beschimpft. „Ich verstand die Welt nicht mehr“, schrieb Heidemarie Tiebel damals. „Was erzählt wurde, konnte nicht sein. Keiner wusste etwas Genaues und überall wurde heftig diskutiert.“ Vor allem die Älteren verglichen die Situation mit der von 1938, denn es wurde erzählt, wieder seien Deutsche in ihr Land einmarschiert, was sich dann als falsch herausstellte. Was richtig war: Der August 1968 sollte als Ende des Prager Frühlings in die Geschichte eingehen. Die restlichen Tage bemühte man sich um ein sachliches Miteinander, aber die Stimmung blieb gedrückt und angespannt. Vor allem fragten sich die Sportler: Wie kommen wir nach Hause?

Die lange Heimfahrt

Am 24. August gegen Mittag brachte ein Bus sie zum Bahnhof nach Poprad. Dort waren Hunderte Menschen gestrandet und warteten auf einen Zug Richtung Prag. Beim Anblick so vieler Menschen zweifelten einige aus der 30-köpfigen Gruppe daran, überhaupt wegzukommen. Viele Einheimische trugen eine Plakette, auf der der Name Dubcek bzw. Svoboda stand. Auch Losungen waren zu sehen. Sie zu fotografieren, hat sich Heidemarie Tiebel damals nicht getraut. Auch weil sich Agitatoren durch die Menge drängten und mit den Leuten diskutierten. „Trotzdem blieb alles ruhig“, schrieb Heidemarie Tiebel weiter. Als der Zug endlich kam, hatte ihre Gruppe einen Waggon für sich. Während der Fahrt wurde gesungen und viel erzählt. „Irgendwie wollte jeder damit seine Unruhe und auch seine Angst verbergen.“ Gegen 23 Uhr stiegen in Pardubice die tschechischen Freunde aus. „Nun mussten wir ohne ihre Hilfe und ihren Schutz klarkommen.“

In Kolin stiegen sie in einen Regionalzug nach Nymburg um, von wo am Morgen ein Zug nach Decin fahren sollte. Doch 0.30 Uhr standen sie auf dem Bahnsteig, über die Stadt war der Ausnahmezustand verhängt worden. „Als der Bahnhofsvorsteher merkte, dass wir Deutsche waren, ließ er uns sofort in den Deciner Zug, der auf dem Abstellgleis stand, einsteigen.“ Auch in Decin hatte die Gruppe wieder Glück. „Der Zug, der die Touristen einsammelte, die aus den verschiedenen Ostblockländern zurück in die DDR wollten, und der nur einmal täglich nach Dresden fuhr, stand bereit und brachte uns, nach einigen Stunden Wartezeit, unversehrt nach Hause.“

Die im August 1968 entstandenen Freundschaften hielten viele Jahre. 1972 traf Heidemarie Tiebel die Jablonecer Freunde wieder. Inzwischen sind die Verbindungen eingeschlafen. Die Erinnerungen aber sind im August 2018 wieder wach.