Merken

Erfolgsrezept der Sozialen Marktwirtschaft in Gefahr

Die Sozialpartnerschaft feiert das 100-jährige Jubiläum. Kann sie auch die Digitalisierung und soziale Spaltung meistern?

Teilen
Folgen
NEU!
© dpa/Julian Stratenschulte

Von Wolfgang Mulke

Am Dienstag werden Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Chefs der Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände Lobreden auf die Sozialpartnerschaft in Deutschland halten. Mit dem Begriff können viele Bürger nur noch wenig anfangen. Tarifautonomie und selbstverwaltete Kranken- und Rentenversicherung klingen nicht gerade modern. Doch das täuscht.

Vor 100 Jahren wurde die Sozialpartnerschaft verabredet, damals zwischen dem Industriellen Hugo Stinnes und dem Gewerkschaftsführer Carl Legien. Vorläufer gab es schon. Doch die heute noch geltende Tarifautonomie wird auf das Abkommen der beiden Männer vom 15. November 1918 terminiert. Seither handeln Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Arbeitsbedingungen aus. Die Politik hält sich da raus. „Aufgrund der sozialen Gegensätze im Ersten Weltkrieg sahen die Arbeitgeber ein, dass es ohne Gewerkschaften nicht geht“, erläutert der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe. Auch, um Revolten zu vermeiden, entschieden sich die Unternehmer für die Kooperation mit den Arbeitervertretern. „Die Arbeitgeber sicherten den Gewerkschaften den Achtstunden-Tag und Tarifverträge zu und erhielten dafür im Gegenzug eine Existenzgarantie“, sagt der Wissenschaftler. Daraus entwickelte sich über die Jahrzehnte eine Basis des wirtschaftlichen Erfolges Deutschlands.

Krisen abgefedert

Löhne und Gehälter orientieren sich seither an der Produktivität der Betriebe. Das lief zwar niemals konfliktfrei. Auch in Deutschland gab es große Streikwellen, vor allem 1984, als die IG Metall die 35-Stunden-Woche im Westen durchsetzte – und 2003 in Sachsen nicht. Aber die Tarifpolitik hatte immer auch den wirtschaftlichen Erfolg der Betriebe im Blick. Die Arbeitskosten sollten die Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Durch die Verabredung niedriger Lohnsteigerungen haben die Gewerkschaften den Unternehmen in schwierigen Zeiten auf die Beine geholfen. Auch sind Betriebsräte oder Gewerkschaften in Krisenzeiten zu Zugeständnissen bereit.

Dieses weltweit einmalige Zusammenspiel hat den Gewerkschaften zwar viel Kritik von der politischen Linken eingetragen, ist aber auch ein Grund für den Exporterfolg der deutschen Wirtschaft. Das funktioniert nach Einschätzung des Leiters der Grundsatzabteilung beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Thomas Fischer, im Prinzip noch heute. Gezeigt habe sich dies zuletzt in der Finanzkrise vor zehn Jahren. „Wenn es ganz arg kommt, funktioniert die Sozialpartnerschaft am Ende doch“, stellt Fischer fest. Was geschah? Statt Fachkräfte zu entlassen, beließen es Unternehmen bei Kurzarbeit. Der Staat half durch das Kurzarbeitergeld und die Abwrackprämie, die Arbeitnehmer ließen sich auf Arbeitzeitkonten ein. Als die Konjunkturkrise vorbei war, konnten die Unternehmen sofort wieder durchstarten und stehen heute so stark da wie wohl noch nie.

„Arbeitgeber und Gewerkschaften sind wie niemand sonst in der Lage, die wirtschaftliche Situation ihrer Branche oder ihres Unternehmens einzuschätzen und für beide Seiten zu tragfähigen Lösungen zu kommen“, heißt es in einem Essay der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). So würden Arbeitsplatzverluste verhindert und die Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg der Firmen beteiligt. Tatsächlich hat die Sozialpartnerschaft mit ihren rund 72 000 Tarifverträgen Deutschland lange befriedet. Wochenlange Arbeitskämpfe wie bei den Streiks der Lokführer in den letzten Jahren, sind die Ausnahme. BDA-Chef Ingo Kramer hofft auf eine Renaissance der Tarifautonomie. „Wir Sozialpartner müssen auch zukünftig dafür sorgen, dass sich Betriebe im Wettbewerb behaupten können und die Belegschaften fair am ökonomischen Erfolg beteiligt werden. Letzteres wird für viele Niedriglöhner wie Hohn klingen. Das Erfolgsmodell zeigt nämlich Risse. So laufen den Tarifpartnern seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Mitglieder weg. Die Mitgliederzahl der Gewerkschaften ging seit der Wiedervereinigung von zehn Millionen auf sechs Millionen zurück. Und viele Betriebe verließen ihren Arbeitgeberverband, weil sie sich keinem Flächentarifvertrag unterordnen wollten.

Tiefe Risse zeigen sich

Auch die Agenda 2010 hat das Image der Sozialpartnerschaft beschädigt. Damit einher ging laut DGB eine wachsende Zahl schlecht bezahlter Beschäftigungsverhältnisse. „Wer unter prekären Bedingungen arbeitet, wird leider seltener Mitglied einer Gewerkschaft“, sagt Fischer. Eine starke Organisation sei aber die Voraussetzung für eine funktionierende Sozialpartnerschaft. Die Gewerkschaften wollen wieder mehr Mitglieder werben, zum Beispiel durch die gezielte Unterstützung von Solo-Selbstständigen wie freien Internet-Mitarbeitern. Doch der DGB räumt ein, dass die Sozialpartnerschaft inzwischen dreigeteilt ist. Unverändert tariftreu zeigen sich der Öffentliche Dienst und die großen Exportunternehmen. Im industriellen Mittelstand habe sich dagegen aus der Sozial- eine Konfliktpartnerschaft entwickelt, und in der Dienstleistungswelt sei sie noch gar nicht angekommen.

Ob sie je wieder die Bedeutung wie in den Blütezeiten der 50er- und 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts erreichen wird, darf bezweifelt werden. Wissenschaftler Plumpe sieht die Zukunft eher skeptisch. „Wir werden künftig eine stärkere Spaltung erleben“, vermutet er. „In Folge der Digitalisierung gehen industrielle Arbeitsplätze verloren, ohne dass neue entstehen.“ Das größte Risiko für die Sozialpartnerschaft sieht der Experte in der Inflation. Als die Preise vor fast 100 Jahren plötzlich ins Unendliche stiegen, sei ständig gestreikt worden, und es seien konkurrierende Organisationen entstanden. Den jetzigen Wunsch der Politik nach höheren Inflationsraten hält er für unverantwortlich.