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„Er hat mich großgezogen wie ein Vater“

Wer war der Architekt hinter der Konsum-Fleischfabrik? 50 Jahre nach seinem Tod erinnert Enkelin Karin an Kurt Bärbig.

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© Sven Ellger

Von Franziska Klemenz

Endlichkeit ist so eine Sache. Alle wissen, dass sie endlich sind, viele glauben an mehr. Manche sagen, Kinder verewigen sie; wenige erinnern 50 Jahre nach ihrem Tod noch außerhalb eines Friedhofs an sich. Kurt Bärbig schon. „Wann immer ich an den Häusern vorbeikomme, habe ich ihn vor mir“, sagt Karin Knorr, Enkelin des Architekten und Malers.

Karin Knorr mit einem Bildnis von Bärbig. Zum ersten Mal, seit sie und Ehemann Werner vor 16Jahren eingezogen sind, haben sie es von der Wand genommen.Foto: Sven Ellger
Karin Knorr mit einem Bildnis von Bärbig. Zum ersten Mal, seit sie und Ehemann Werner vor 16Jahren eingezogen sind, haben sie es von der Wand genommen.Foto: Sven Ellger
Mit diesem Entwurf gewann Bärbig den Wettbewerb der Konsumgenossenschaft. Eigentlich war ein riesiges Areal geplant. Gebaut wurde nur der Bogen.
Mit diesem Entwurf gewann Bärbig den Wettbewerb der Konsumgenossenschaft. Eigentlich war ein riesiges Areal geplant. Gebaut wurde nur der Bogen. © privat/Entwurf: Kurt Bärbig
Eine Kleinwohnkolonie in Laubegast, die Kurt Bärbig entworfen hat. Wohnungen für Arbeiter gehörten zu den Spezialitäten des Sozialdemokraten.
Eine Kleinwohnkolonie in Laubegast, die Kurt Bärbig entworfen hat. Wohnungen für Arbeiter gehörten zu den Spezialitäten des Sozialdemokraten. © privat
„In höchster Durchführung zeigt sich Bärbigs klar waltender Wille, begleitet von niemals versagender Erfindungsgabe“ nach Ansicht von Schriftsteller Martin Richard Möbius in der ehemaligen Fleischfabrik nahe der Nossener Brücke. Das 1930 fertiggestellte G
„In höchster Durchführung zeigt sich Bärbigs klar waltender Wille, begleitet von niemals versagender Erfindungsgabe“ nach Ansicht von Schriftsteller Martin Richard Möbius in der ehemaligen Fleischfabrik nahe der Nossener Brücke. Das 1930 fertiggestellte G © privat

Einen Preis und später obendrein Denkmalschutz bekam Bärbig für einen anderen Entwurf. Er ist der Architekt, der die ehemalige Fleischfabrik der Konsumgenossenschaft „Vorwärts“ nahe der Nossener Brücke entworfen hat. Jenen markanten Ziegelbogen an der Fabrikstraße, den ein Berliner Investor seit Kurzem saniert. Ursprünglich als riesiges Areal geplant, baute die Genossenschaft wegen der Weltwirtschaftskrise jedoch nur einen Teil davon. Architekt Thomas Kanthak und seine Kollegen vergruben sich im Auftrag des Investors nun in Archiven. Das Werk Bärbigs zu verstehen, sagen sie, sei Voraussetzung für die Sanierung des Gebäudes.

Karin Knorr erinnert sich auch ohne Archive an Bärbig. 50 Jahre ist der geborene Dresdner jetzt tot, seit September 1968. Mit 79 starb er. Unvorhersehbar, im Meer, das er so liebte. Gerade hatte Bärbig einen Entwurf beim Statiker abgegeben, fuhr nach Lubmin an die Ostsee. Beintief watete er durchs Wasser, als ein Herzinfarkt ihn bewusstlos in die Wellen stürzen ließ.

„Wäre er nicht im Wasser gewesen, hätte er vielleicht überlebt“, sagt Karin Knorr und wischt sich übers Gesicht, kurz bevor die Träne über ihre rosa geschminkten Lippen laufen kann. Eigentlich ist die 74-Jährige eine ziemlich fröhliche Frau. Sie und ihr Ehemann Werner blättern in Büchern über und von Kurt Bärbig, in Architektur-Entwürfen, in seinem Tagebuch.

Sie sitzen mit einem Tablett Pflaumenkuchen auf der Terrasse, einem Blüten-Meer. Hortensien, Hibiskus, Hornveilchen. Eine Rose steht auf dem Tisch, um den Hals der Rentnerin hängt eine Kette mit einem Wiesenstrauß. „Ich liebe Blumen, die Natur, den Garten über alle Maßen“, sagt sie.

Das könnte sie von Bärbig haben. „Wie er Pfirsiche gepflückt hat, werde ich nie vergessen. Jeder war etwas Besonderes für ihn, etwas Tolles, wie eine Wissenschaft.“ Einen Stil, der Natürliches aufgriff und weiterentwickelte, sehen einige in Bärbigs Werken. „Nirgends überschreitet er das zweckvoll und organisch entstandene Gehäuse, nirgends bemüht er sich um Schönheit oder Stil: Beides ist immer wie von selbst als natürliche Begleiterscheinung da“, schreibt etwa der Dresdner Schriftsteller Martin Richard Möbius. „Schon aus dem Gelände heraus sieht sich Bärbig zu einer Bildung des Raumes gedrängt, die der Natur folgt, sie plastisch weiterführt oder ergänzt.“ Ganze Straßenzüge hat Kurt Bärbig geprägt. In Wilsdruff, Laubegast, Niederpoyritz oder Cotta etwa. Wohnkolonien für Arbeiter, Friedhöfe oder das Institutsgebäude für Landtechnik der Universität Dresden hat er entworfen.

Vor den Nazis nach Brasilien geflohen

Von „morgens bis abends und abends bis morgens“ habe er gearbeitet, sagt Werner Knorr. Trotzdem verbrachte er viel Zeit mit seiner Enkelin. „Großvati oder Opa habe ich ihn niemals genannt“, sagt sie. „Er war von Anfang an Vati.“ Als Knorr ein halbes Jahr alt war, fiel ihr Vater im Krieg. Karins vier Schwestern hatte er aus einer früheren Ehe mitgebracht, als Halbwaisen.

Karins Mutter adoptierte die Kinder. „Wir wurden alle gleich behandelt, aber als einzige leibliche Tochter und Kleinste von fünf hatte ich eine besondere Beziehung zum Großvater.“ Besondere Beziehungen waren während des Ersten Weltkriegs aus Bärbigs Leben gerissen worden. Frau und Kinder erkrankten an Diphtherie. Nur Knorrs Mutter überlebte.

„Ich habe immer wieder Rat und Schutz bei ihm gesucht, er war ein ganz lieber Mensch, hat nie geschimpft“, sagt Bärbigs Enkelin. Oft hat er sie von der Schule abgeholt, mit einem Adler Trumpf Junior Cabrio – der Sorte Auto, die mit ihren runden Scheinwerfern und den langen Trittbrettern an eine Mischung aus Frosch und Dackelohren erinnert. „Jeden Sonntag sind wir mit dem Schiff nach Pillnitz gefahren, da hat er mir das ganze Gelände erklärt, die Gärten. Sonntage waren ihm heilig.“

Opulent habe er nicht gelebt; aus finanziellen Gründen und aus Überzeugung. Mit 14 Jahren trat er in die Gewerkschaft ein, mit 24 gründete er ein eigenes Architektenbüro in Dresden, 1933 – mit 44 Jahren – erteilte die NSDAP dem „roten Architekten“ ein Berufsverbot für Sachsen. 1934 verließ er das Land. Brasilien wurde sein neuer Wohnort, Dresden blieb Heimat. Als seine Stadt 1945 in Trümmern lag, konnte Bärbig wieder in Dresden arbeiten. Als Mitglied des ersten Trümmer-Komitees half er, sie neu aufzubauen; „in einer Weise, der man heute durchaus mit Hochachtung begegnen muss“, schreibt Künstler Jürgen Schieferdecker über ihn.

Mosaikstücke eines Lebens, das sich auf Fassaden, in Straßen und den nächsten Generationen verewigt hat. Wenige Monate vor seinem Tod wurde Bärbig Urgroßvater. „Er war als Erster im Krankenhaus“, sagt Knorr. In der Hand hielt er eine Orchidee.