Merken

Einsatz in Ecuador

Ergotherapeutin Jacqueline Kehm tauscht für ein Vierteljahr ihren Arbeitsplatz. Und sie würde es jederzeit wieder tun.

Teilen
Folgen
© Norbert Millauer

Von Ines Scholze-Luft

Coswig. Bei ihr ist George nicht allein. Lonesome George, der einsame George – eine Galapagos-Riesenschildkröte, die Letzte ihrer Unterart, mit vermutlich 100 Jahren im Jahr 2012 gestorben. Ein Symbol der Inselgruppe im östlichen Pazifik, westlich von Ecuador. George ziert ein Shirt von Jacqueline Kehm. Wenn sie es nicht trägt, sind andere Schildkröten in der Nähe, beispielsweise auf ihrem Halstuch. Die Reptilien deuten an, weshalb die Coswigerin im vorigen Herbst eine Arbeit in 2 800 Metern Höhe begann. Die Liebe zu Südamerika, zu den Ländern, dem Leben und der Tierwelt dort gehören ebenso dazu wie die Liebe zu ihrem Beruf. Und die Freundschaft zu einer Kollegin, die sie einst bei ihrer Ausbildung nahe Fulda kennenlernte.

Jacqueline Kehm bei einem ganz besonderen Erlebnis, einem Ausflug in die Umgebung von Quito, Ecuador, wo sie im vergangenen Herbst für ein Vierteljahr mit behinderten Menschen arbeitete.
Jacqueline Kehm bei einem ganz besonderen Erlebnis, einem Ausflug in die Umgebung von Quito, Ecuador, wo sie im vergangenen Herbst für ein Vierteljahr mit behinderten Menschen arbeitete. © privat

Wenn die 48-Jährige über ihre Erlebnisse in Ecuador spricht, funkeln ihre Augen, und der Zuhörer glaubt, sie sei gerade von dort zurückgekehrt, so anschaulich schildert sie die Zeit in der Ferne. Gewünscht hatte sie es sich schon lange, mal im Ausland zu arbeiten. In Südamerika. Nach Urlaubsaufenthalten in Venezuela, Peru, Bolivien. Als dann eine enge Freundin fünf Jahre für eine schweizerisch-deutsche Organisation in Quito, Ecuadors Hauptstadt, Aufbauarbeit leistet, in einer Einrichtung für Jugendliche mit besonderer Begabung – in Deutschland behinderte Menschen –, rückt die Erfüllung des Wunsches näher.

Zumal die Freundin bei einem Besuch in Jacqueline Kehms Praxis in Coswig begeistert ist von dem, was die Ergotherapeutin da aufgebaut hat, vor allem von der Werkstatt mit Bohrmaschine und Säge. Wichtige Erfahrungen für die Einrichtung der Fundación Tierra Nueva in Quito, wo die Freundin tätig ist. Die Fundación betreibt unter anderem das Hospital Padre Carollo, ein Krankenhaus, das sich nur über Spenden finanziert. Jacqueline Kehm könnte in der Holzwerkstatt der Fundación für behinderte Jugendliche tätig sein. Dort entstehen Untersetzer aus Zeitungspapier und Kinderspielzeug wie Bausteine, für den Verkauf. Aus einfachsten, kostenlosen Materialien. Was kann die Coswigerin da als neuen Vorschlag mitbringen?

Vorher aber sind noch ganz andere Fragen zu klären. Kann sie die Praxis allein lassen? Bei fünf Mitarbeiterinnen und einem großen Patientenkreis, von Kleinkind bis Senior, Menschen nach Schlaganfall oder Unfall, mit Demenz oder angeborenen Problemen. Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Ein Vierteljahr Aufenthalt ohne Visa ist möglich und das Team bereit, den Einsatz mitzutragen, die therapeutische Leitung wird geklärt, eine neue Computeranlage ermöglicht den Zugriff von Ecuador.

Nur: Jacqueline Kehm spricht kein Spanisch. Die Freundin schon. Sie ist Spanierin, lebt seit ihrer Kindheit in Deutschland. Und ist sicher, die Coswigerin schafft es auch ohne diese Sprache. Ich brauche deine Augen, sagt sie zu ihr. Sie setzt auf ihr Wissen, ihr genaues Beobachten. Was können sie in Quito wie besser machen? Aber die Fundación will nicht so recht, sie stellt nur Spanischsprechende ein. Die Freundin überzeugt die Entscheider. Und sie wird angenommen, ohne Bezahlung.

Dafür wird sie bei ihrer Gastfamilie wohnen und essen. Die lebt in einem Einfamilienhaus mitten in der Stadt, die Gastmutter Krankenschwester, der Gastvater touristischer Betreuer. Zwei erwachsene Söhne, mit Frau bzw. Freundin. Jacqueline Kehm schwärmt von der liebevollen Aufnahme. Mit der Gastmutter kocht sie, geht einkaufen. So lernen die Händler im Viertel sie kennen, wissen, die exotische Frau mit den roten Haaren und der hellen Haut gehört hierher, passen mit auf sie auf.

Denn Sicherheit ist ein überragendes Thema. Die ersten 30 Tage darf sie nur in Begleitung aus dem Haus, später schon allein, aber nicht auf bestimmte Straßen und nicht bei Dunkelheit. Kriminalität ist allgegenwärtig. In den schönen Park am Hospital kann sie trotzdem gehen, dort wacht die Polizei. Und als sie mal mit ein paar Einkaufstüten in den Händen sichtlich angestrengt den Berg zum Wohnhaus hinauf läuft – sie will für die Gastfamilie Spaghetti und Kürbissuppe kochen –, bietet ein einheimischer Autofahrer Hilfe an.

Dabei ist sie gekommen, um zu helfen. In der Werkstatt, wo sie mit 15 jungen Behinderten Holz bearbeitet. Spiele baut – die Vorschläge dazu hat sie mitgebracht –, um Feinmotorik, Merkfähigkeit, Vorstellungskraft zu schulen. Mit sehr disziplinierten 17- bis 21-Jährigen, die auch den Umgang mit Geld und Computern lernen. In ihrer zweiten Arbeitsstelle, einer Schule für Behinderte bei Quito, hospitiert sie, gibt Tipps für die Erzieher. Zeigt auch, wie die in Ecuador weit verbreiteten Hängematten bei der Behandlung von Gleichgewichtsproblemen genutzt werden können. Und stellt dabei oft fest, dass ein Vierteljahr zu kurz ist, um alle Vorhaben umzusetzen.

Nicht zuletzt deshalb würde sie wieder zu einem solchen Einsatz starten, sagt Jacqueline Kehm. Auch George und manch andere Schildkröte in ihrer Umgebung halten den Wunsch wach.

Wer mehr erfahren möchte über den Ecuador-Aufenthalt: Jacqueline Kehm bietet Vorträge an, Information unter 03523 774397