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Einfach verrückt und verrückt einfach

2001 ist der Oberelbe-Marathon am Tiefpunkt, denn die Strecke ist zu kurz. Die Läufer schimpfen – und kommen trotzdem wieder.

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© Lutz Hentschel

Von Tino Meyer

Um vom Oberelbe-Marathon zu schwärmen, muss man nicht erst 700 Meter unter der Erde verschüttet gewesen sein. Widersprechen mag wie Edison Pena dennoch keiner. „Die Landschaft ist so grün hier und die Luft so sauber“, sagt der Chilene, als er nach halber Distanz in 2:14:45 Stunden das Ziel erreicht. Das ist nicht besonders schnell. Zu den Langsamen gehört Pena aber auch nicht – und ihm trotzdem die meiste Aufmerksamkeit.

Die Geschichte des Oberelbe-Marathons sowie weitere Laufklassiker samt Streckenprofil nachzulesen in: „Dresden läuft“. Das Laufbuch ist erhältlich im SZ-Treffpunkt, dem Laufsportladen oder www.editionsz.de
Die Geschichte des Oberelbe-Marathons sowie weitere Laufklassiker samt Streckenprofil nachzulesen in: „Dresden läuft“. Das Laufbuch ist erhältlich im SZ-Treffpunkt, dem Laufsportladen oder www.editionsz.de

Er ist einer der 33 verunglückten Bergleute, der im Herbst 2010 nach 69 Tagen in einer zusammengebrochenen Mine zurück ins Leben geholt wurde und sein Start die spektakulärste Aktion in der Geschichte des Oberelbe-Marathons, der am 30. April zum 20. Mal stattfindet. Die Veranstalter hatten ihn 2011 für eine Woche nach Dresden eingeladen. „Diesen verrückten Typen, der gut zu uns passt“, wie sie meinen.

„Den Läufer“ haben ihn die Kumpel unter Tage genannt. Weil er nicht rumsitzen und auf Rettung warten, sondern etwas tun wollte. Also hatte Pena seine dicken Lederstiefel mit der Stahlkappe in Knöchelhöhe abgeschnitten und ist durch die dunkle Mine gerannt. „Das Laufen war mein Krieg gegen die Mine. Ich habe zu ihr gesagt: Ich laufe so lange, bis du meiner überdrüssig bist“, erzählte er bei seinem Besuch in Dresden und meinte, dass Laufen doch die einfachste Sache der Welt sei – erst recht über Tage: „Die Menschen haben alles, um alles zu tun. Doch sie tun nichts. Dabei müssen sie einfach nur loslaufen.“

Rückwärts schneller als vorwärts

Klingt verrückt einfach und ist doch einfach verrückt. So wie Thomas Dold, der Rückwärtsläufer. Ihm verdankt der Oberelbe-Marathon eine andere besondere Anekdote. Tatsächlich rückwärts ist er 2011 die 10-km-Strecke vom Blauen Wunder bis ins Steyer-Stadion gelaufen und zwar in der damaligen Weltrekordzeit von 40:58 Minuten. „Wenn man sich etwas vornimmt, muss man daran glauben. Und etwas dafür tun. Dann ist richtig viel möglich, rückwärts wie vorwärts“ sagt Dold, der 2015 erneut nach Dresden kam und den Rückwärts-Weltrekord auf 39:20 Minuten verbesserte. Das schaffen selbst andersherum nicht viele.

Zwei schöne Episoden sind das. Und das es sie gibt, ist fast noch unglaublicher. Denn eigentlich dürfte es diesen Oberelbe-Marathon ja gar nicht mehr geben. Schon der Beginn ist verkorkst genug, als sich der damalige Organisationschef Werner Klawun mit den Machern des Dresden-Marathons überwarf und die Premiere beider Läufe zeitgleich am 8. November 1998 stattfand – sogar mit identischen Streckenabschnitten. Noch verheerender ist die Situation jedoch drei Jahre später, was überhaupt nichts mit dem Wetter zu tun hat. Zwei Grad Celsius zeigt das Thermometer an jenem 22. April 2001, außerdem regnet es mit Hang zum Hagel. Als endgültiger Stimmungskiller entpuppt sich im Ziel aber, was einige der erstmals gut 1 000 Teilnehmer bereits unterwegs geahnt hatten: die deutlich zu kurze Strecke.

Statt 42,195 Kilometer sind es lediglich 40,545. Macht ein Minus von satten 1 650 Metern. Der inzwischen obligatorische Abstecher in die Pirnaer Innenstadt ist nicht genehmigt worden, eine bereits vermessene Runde durch Heidenau scheiterte an der Organisation. „Alle waren gefrustet, und ich bekam den ganzen Ärger im Stadion ab. Da habe ich meine Security-Jacke ausgezogen. Es war nicht zum Aushalten. Aber die Leute hatten ja recht“, erinnert sich Uwe Sonntag, damals einer der Helfer im Ziel.

Schlechte Nachrichten sind ja manchmal auch gute – Hauptsache man bleibt im Gespräch. Doch Schlagzeilen, und zwar durchgängig negative, hat es anschließend nicht nur in Dresden gegeben und noch dazu die Enthüllung, dass auch die vorangegangenen Läufe nie der klassischen Marathonlänge entsprochen haben. „Damit war der Lauf eigentlich tot. Es gab Proteste ohne Ende“, meint Sonntag, der selbst bei der Laufmesse des Berlin-Marathons ein Jahr später noch beschimpft worden ist.

Nach dem zwangsläufigem Rücktritt von Rennleiter Klawun hat sich Sonntag trotzdem zunehmend um die Organisation gekümmert, und das macht er bis heute.

Dass der Landschaftslauf aus taktischen Gründen zwischenzeitlich in Königstein-Dresden-Marathon umbenannt wird, hilft zunächst aber wenig. 2002 bricht die Teilnehmerzahl ein. „Wirklich sterben lassen wollten wir den Lauf dennoch nicht, allein schon wegen der Strecke“, sagt Sonntag, und er wagt mit ein paar Mitstreitern den Neuanfang.

Und tatsächlich steigen seit 2003, also der sechsten Auflage, die Teilnehmerzahlen wieder bis auf rund 6 000. Viel mehr ist kaum möglich auf dem knapp zwei Meter breiten Elberadweg, der die Läufer durch den Kurort Rathen und Wehlen führt, vorbei am Schloss Pillnitz und dem Blauen Wunder sowie den drei Elbschlössern. Wie die Wiederbelebung gelungen ist, lässt sich rückblickend nicht mehr genau rekonstruieren. Rätselhaft ist das selbst Sonntag.

Doch es gibt zumindest einige Anhaltspunkte, die die Popularität des OEM, wie er in Läuferkreisen genannt wird, erklären. Neben Landschaft und Streckenverlauf, für die allermeisten Starter nach wie vor das Top-Argument, ist es vermutlich die unvergleichliche Atmosphäre beim Zieleinlauf im Steyer-Stadion und der familiäre Charakter dort. Die Akzeptanz geht jedenfalls inzwischen sogar so weit, dass es im Dezember eine Miniversion namens OEM-Adventslauftreff gibt. Wer hätte das einst für möglich gehalten.

Anmeldung und Infos: www.oberelbe-marathon.de