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Eine Mark für Espenhain

„Man müsste mal eine Aktion wagen“, dachte sich Walter Christian Steinbach im Juni 1988. Zehntausende beteiligen sich und protestieren gegen die Umweltzerstörung in der DDR.

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© imago

Von Johannes Süßmann

Wer sich im Juni 2018 durch das Gebiet südlich von Leipzig bewegt, weiß gar nicht, wo er zuerst baden soll. Cospudener See, Markkleeberger, Störmthaler und Zwenkauer See – die Auswahl an Gewässern zum Erfrischen und Verweilen ist beinahe unerschöpflich. Vor 30 Jahren war das ganz anders. Alle diese Seen waren einmal Tagebaue; jahrzehntelang wurde im Leipziger Südraum Braunkohle abgebaut und nebenan verarbeitet, vor allem im VEB Kombinat Braunkohleveredelung Espenhain.

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs als hochmoderne Anlage errichtet, wurde in dem Werk zu DDR-Zeiten unter anderem Braunkohle zu Briketts und Teer verarbeitet. Auch Anlagen zur Entschwefelung waren dabei. „Da rieselte einem auf dem Schulweg schon mal der Kohlestaub ins Gesicht“, sagt der heutige Bürgermeister des nahen Örtchens Rötha, Stephan Eichhorn (parteilos). Doch sei der Betrieb nicht nur Fluch, sondern auch Segen gewesen, sicherte er doch rund 6 000 Menschen den Arbeitsplatz.

Nach Recherchen des Mainzer Historikers Tobias Huff notierte das Ministerium für Umweltschutz der DDR 1984, das Werk Espenhain gefährde in dem dicht besiedelten Gebiet die Gesundheit von etwa 450 000 Menschen – womit es republikweit an der Spitze aller Betriebe lag. Die Schwefeldioxidbelastung um Espenhain lag demnach zeitweise um das Zehnfache über dem erlaubten Maximum.

„Dass das nicht gut war, war natürlich allen klar“, sagt Wieland Schütter, von 1986 bis 1990 Betriebsdirektor des Werks. Allein, es seien keine Mittel vorhanden gewesen, die dringend notwendige Sanierung zu stemmen. Dass die Belastungen durch das Werk kaum erträglich seien, fand auch der Röthaer Pfarrer, Walter Christian Steinbach. Zusammen mit einigen Mitstreitern gründete er im Herbst 1981 das Christliche Umweltseminar Rötha, kurz CUR. Auf dessen Initiative folgten bald zahlreiche Naturschutzaktionen im Leipziger Süden. Der Gedanke zu der entscheidenden Aktion kam Steinbach während eines Vortrags im Juni 1988. Man müsste, sagte er da, mal eine Aktion wagen, etwa nach dem Motto „Eine Mark für Espenhain“. In seinem kürzlich erschienenen Buch über jene Zeit nennt Steinbach diesen Moment „die Geburtsstunde der symbolischen Aktion“. Und symbolisch musste sie sein, denn Unterschriftensammlungen waren in der DDR verboten.

Man entschied sich also, Spenden von je einer Ost-Mark zur Sanierung des VEB Espenhain zu sammeln und den Erhalt per Unterschrift zu quittieren. „Einer solchen List“, sagt Steinbach, „war die DDR nicht mehr gewachsen.“ Massen machten mit – und die Machthaber sahen, trotz steter Präsenz der Stasi, weitgehend hilflos zu.

„Wir wussten natürlich von der Tätigkeit des CUR, haben sie aber durchaus mit verhaltener Sympathie begleitet“, erzählt Ex-Werksdirektor Schütter. „Unser Ziel war durchaus, das Werk loszuwerden.“

Am Ende wurden beide Seiten von der Geschichte überrollt, die Mauer fiel, die Wende kam. Espenhain wurde abgewickelt. Der Wert der bei „Eine Mark für Espenhain“ letztlich etwa 100 000 gesammelten DDR-Mark blieb auch nach der Wende eher symbolisch. Den Wert der Bürgerbewegung hingegen resümiert der frühere sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Michael Beleites, so: „Das ist eine Hoffnungsgeschichte, die man gerne weitererzählt: dass tot geglaubte Orte, an denen niemand eine Perspektive gesehen hat, wiederbelebt worden sind und Menschen gerne hier leben und alt werden wollen.“

Maßgeblich verantwortlich für die Schaffung der heutigen Seenlandschaft war als Regierungspräsident für Leipzig-Westsachsen nach 1990 übrigens ein gewisser Walter Christian Steinbach. (epd)