Merken

Eine Kamera ist der Zeit voraus

Die „Praktina“ war eine der interessantesten Kamera-Entwicklungen nach dem Krieg. Dennoch kam das Aus.

Teilen
Folgen
© Technische Sammlungen Dresden

Von Ralf Hübner

Wechselsucher, viele Wechselobjektive, ein Federmotor, ein fernbedienbarer Elektromotor, Stereovorsatz mit Stereosucher – die „Praktina“ der früheren Kamera-Werkstätten Niedersedlitz gilt als eine der weltweit ersten Kleinbild-Systemspiegelreflexkameras und als ein Höhepunkt der Dresdner Fotoapparate-Industrie. Vor 65 Jahren wurde im August 1953 die Serienproduktion gestartet. Für die Profi-Kamera wurde immer neues Systemzubehör entwickelt. Damit ließ sich nahezu jedes fotografische Problem lösen.

Unter dem Arbeitstitel „Praktica II“ hatten Ende 1949 in den damaligen Kamera-Werkstätten Niedersedlitz die Entwicklungsarbeiten begonnen. Dabei hatte Siegried Böhm, damals Betriebsleiter, Technischer Leiter und Chefkonstrukteur in einer Person, auf seine Vorarbeiten von 1944 zurückgegriffen. Der gebürtige Erzgebirger hatte 18-jährig als Technischer Zeichner beim Konkurrenten Zeiss Ikon begonnen, sich dort zum Techniker und Konstrukteur hochgearbeitet. 1946 wurde er in das Niedersedlitzer Unternehmen versetzt, wo er die Produktion ankurbeln sollte. Das Werk musste im Zuge der Kriegsreparationen insgesamt 50 000 Kameras in die Sowjetunion liefern. 1948 wurde Böhm Chef und nach Gründung des VEB Kamera- und Kinowerke Dresden 1959 dessen Technischer Direktor und wurde nach innerbetrieblichen Querelen 1982 auf eigenen Wunsch pensioniert.

Die Kamera-Werkstätten Niedersedlitz waren aus den 1919 gegründeten „Kamera-Werkstätten Guthe & Thorsch“ hervorgegangen. 1930 schied Paul Guthe aus dem Unternehmen aus. Bernhard Thorsch emigrierte 1938 angesichts der damaligen politischen Verhältnisse in Deutschland in die USA, denn er hatte einen jüdischen Elternteil. Er tauschte das Unternehmen gegen eine Fotokopieranstalt. Der Dresdner Betrieb wurde im Gegenzug von der deutschstämmigen Familie Noble übernommen und von Charles A. Noble und dessen Sohn John geleitet. Das Unternehmen, jetzt die „Kamera-Werkstätten Charles A. Noble“, bezog neue Räume in der Bismarckstraße. Das Unternehmen konzentrierte sich zunehmend auf einäugige Spiegelreflexkameras. Seit 1938 produzierte es mit der „Praktiflex“ als weltweit drittes Unternehmen eine einäugige Kleinbildspiegelreflexkamera in Serie, nach der „Kine Exakta“ von Ihagee und der russischen „Sport“. Der Clou: Die „Praktiflex“ hatte einen Rückschwingspiegel. Der Fotograf konnte sich voll auf das Motiv konzentrieren und durch das Objektiv sehen, wie das spätere Bild werden würde. Bei anderen Apparaten musste der Spiegel vor der Aufnahme erst manuell geschwenkt werden. Die „Praktiflex“ wurde 1947 weiter verbessert. Auf deren Basis entwickelte Böhm 1948 das erste „Praktica“-Modell. Deshalb gilt der auch als Vater dieser später so erfolgreichen „Praktica“-Serie.

Nach Kriegsende wurden die „Kamera-Werkstätten Charles A. Nobles“ enteignet. Die Unternehmerfamilie traf es hart. Der Vater kam ins Lager, wird in den Waldheimer Prozessen verurteilt und 1952 entlassen. Der Sohn muss bis 1955 Zwangsarbeit in einem Gulag in Sibirien verrichten. Nach der Wende 1990 kommt John Noble wieder nach Dresden und erhält das Betriebsgelände in Niedersedlitz zurück. Ab 1991 entsteht dort die zunächst erfolgreiche Panorama-Kamera „Noblex“. Nach finanziellen Schwierigkeiten verkauft Noble das Kamera-Werk 1997 .

„Praktina“ war Zeit voraus

Nach dem Kriegsende war das Kamerawerk vor allem wegen der dort geleisteten Entwicklungsarbeiten neben der Zeiss Ikon AG zur zweiten wichtigen Säule des Dresdner Kamerabaus aufgestiegen. Die formschöne „Praktina“ war nach Expertenmeinung ihrer Zeit voraus. Zu deren Besonderheiten gehörte unter anderem ein verschleißfreier Bajonettanschluss für die Wechselobjektive. Der Apparat war einfach zu bedienen. Später gab es sogar Serienauslösung bis zu zehn Aufnahmen. 1958 gab es für die Kamera 28 Objektivtypen aus der DDR und 40 aus der Bundesrepublik.

Dennoch wurde im Frühjahr 1960 die Produktion eingestellt, nachdem das Niedersedlitzer Werk in dem neuen VEB Kamera- und Kinowerke Dresden aufgegangenen war. International schien sich damals der Gewindeanschluss für Wechselobjektive gegen das Bajonett durchzusetzen wie die „Praktina“ eines hatte. Zudem war es auf dem Markt für teure Profikameras relativ. Möglicherweise wurde in der neu geordneten Dresden Foto-Industrie deshalb der einfacheren „Praktica“ der Vorzug gegeben. Andere Experten sprechen schlicht von einer Fehlentscheidung, die getroffen wurde. Wie viele „Praktina“-Kameras hergestellt wurden, ist nicht bekannt. Die Unterlagen sind verloren gegangen.